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Masken-Notstand im Gesundheitswesen

Die Corona-Pandemie hat ein Schlaglicht auf verletzliche Lieferketten bei der Beschaffung von Atemschutzmasken geworfen. Will sich die europäische Textilindustrie künftig in eine Multi-Sourcing-Strategie einbinden lassen, gelingt ihr dies nur über Innovationen.

Rückblick: Die aussergewöhnliche Lage während der Corona-Pandemie provozierte eine aussergewöhnliche Situation in der Beschaffung. Bald wurde klar, dass trotz Pandemieplan der Sollbestand an medizinischem Schutzmaterial weit unterschritten war. Die Nachfrage nach Masken aller Art, OP Schürzen, Handschuhen und Desinfektionsmitteln schoss im März und April dieses Jahres in die Höhe. An vielen Produktionsstandorten war man kaum in der Lage, die benötigten Mengen zu produzieren, zudem erliessen Regierungen kurzfristig Exportverbote, um ihren Heimmarkt zu priorisieren. Seitens der Grossverbraucher traten plötzlich neue, unbekannte Anbieter auf.

Schutzmasken sind gefragt
Am Onlinetalk von GS1 Switzerland berichtete Renate Gröger Frehner, Direktorin Betrieb am Universitätsspital Zürich (USZ), von einer «Riesenwelle von Hilfsangeboten», die auf die Spitäler zukam und teilweise dubiose Offerten «zu extrem überrissenen Preisen» mit unbekannten Empfängerkonti für Zahlungsanweisungen, aber auch gut gemeinte Schenkungen umfasste.

Das USZ beschafft die ganze Bandbreite an Medizinprodukten. Überdies hält das Spital Schutzmaterial auch bei erhöhtem Verbrauch für 150 bis 200 Tage vorrätig. Angesichts der sich abzeichnenden exponentiellen Zunahme des Verbrauchs beteiligte man sich aber dennoch an einem koordinierten Grosseinkauf von Schutzmaterialien durch die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich. Weitere Kantone folgten. In den kritischen Wochen im März und April ermittelte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) einen Tagesbedarf von je 750 000 Hygiene- und Atemschutzmasken. Allein das USZ benötigt rund 20 000 Masken pro Tag.

Anfang April beauftragte der Bundesrat die Armeeapotheke, 550 Millionen Masken aller Typen, davon 330 Millionen Einheiten für die breite Bevölkerung, auf dem Weltmarkt einzukaufen. Für die Armeeapotheke wie für die kantonalen Gesundheitsbehörden eine Mindestlagerreichweite für Schutzmaterial von 40 Tagen festgelegt. Infolge entspannter Marktlage wurde der Einkauf vorzeitig abgebrochen.

Ebenso einzigartig war der Entscheid des Bundes, zusammen mit dem Kanton Zürich in die Schutzmasken-Produktion einzusteigen. Es wurden zwei vollautomatische Masken-Konfektionsmaschinen gekauft und mithilfe eines Technikerteams aus China in den Produktionshallen des Textilunternehmens Flawa Consumer GmbH installiert. Die staatliche Intervention führte dazu, dass nun Atemschutzmasken «made in Switzerland» erhältlich sind.

Bisher verwendetes Material
Das für die Herstellung von Atemschutzmasken verwendete feinstporige Vlies besteht aus dem Kunststoff Polypropylen, der als aufgeschmolzenes Granulat im Meltblown-Verfahren zu hauchdünnen Fäden verarbeitet wird. Das so entstehende, sehr dichte textile Flächengewebe wird für eine Vielfalt von Produkten wie Staubsaugerbeutel, Dieselpartikelfilter oder Klimaanlagenfilter benötigt.

Konformitätsbewertete Atemschutzmasken der Typenklasse FFP schützen vor wässrigen und öligen Aerosolen, Rauchen und Stäuben bei der Arbeit. «Für diese Zwecke war vor der Pandemie eine Versorgung des europäischen Marktes mit einem erheblichen Anteil von Importen aus China gegeben», sagt Ina Neitzner, Referatsleiterin Wissenschaftliche Kooperationen beim Institut für Arbeitsschutz (IFA) der deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Das IFA gilt europaweit als Referenz bei der Konformitätsbewertung persönlicher Schutzausrüstungen (PSA). Der Pandemiefall führte dazu, dass nun mehrere deutsche und europäische Unternehmen bereit sind, in die Herstellung von Atemschutzprodukten einzusteigen und die Erzeugnisse vom IFA bewerten zu lassen.

Mehr Wertschöpfung in Europa?
Hier tauchen Fragen grundsätzlicher Natur auf. Die von der Politik gestützte Absicht, Wertschöpfungsketten innerhalb Europas aufzubauen, stösst auf Schwierigkeiten, da Unternehmen vor Investitionen zurückschrecken. Gut aufgestellt sind bereits spezialisierte Firmen wie die Sandler AG in Bayern, die im April beschlossen hat, in eine zusätzliche millionenteure Hightech-Vliesstoffanlage zu investieren. Die Maschine soll bereits Mitte des dritten Quartals 2020 startbereit sein. Die jährliche Produktionskapazität soll bis zu 800 Millionen Masken betragen.

Auch anderswo kommt Bewegung in den Markt: Das Technologieunternehmen Freudenberg liess unlängst verlauten, selbst hochwertige Mund-Nasen-Masken herzustellen, die «hohe Filterleistung, Tragekomfort und geringen Atemwiderstand» bieten. Das Produkt mit dem Markennamen Collectex zeichnet sich durch dreilagiges Filtervlies und elektrostatische Aufladung aus. «Derzeit sind die Masken nicht als Medizinprodukte nach dem FFP2- oder FFP3-Standard zertifiziert.» Externe Laborberichte zeigten eine bakterielle Filtrationseffizienz des Basismaterials von 98,2 Prozent, wie Leonie Schultens, Mediensprecherin der Freudenberg- Gruppe, erklärt.

Innovationen
Die Maskenfrage bewegt auch die Forschungsinstitute. Die Materialforscher der EMPA haben innert kürzester Zeit nicht nur höhere Qualitätsanforderungen für Hygienemasken definiert, sondern das Projekt «ReMask» lanciert. Es hat zum Ziel, den Partikelschutz bei gleichzeitig guter Luftdurchlässigkeit zu verbessern, ebenso virentötende Beschichtungen und weitere Funktionalitäten zu entwickeln. Darüber hinaus sollen künftige Maskentypen für Wiederaufbereitungsvorgänge tauglich sein, womit sie mehrfach benutzt werden könnten. Noch fehlen Umsetzungspartner aus der Wirtschaft. Auf Basis der ISO-Normen liefert die EMPA die Grundlage für weitere Schritte.

Die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) in Aachen verfolgt mit Partnern ein ähnliches Forschungsziel, das von der EU im EIT-Health-Programm gefördert wird. «Experten aus der Filtertechnik, der Produktionstechnik, Virologen, Mode- und Produktdesigner sowie Markenspezialisten fanden sich zusammen, eine Technologie zu entwickeln, die uns ein wiederverwendbares Hightech-Produkt zur Verfügung stellen wird», sagt dazu David Schmelzeisen vom Institut für Textiltechnik an der RWTH. Ebenso entscheidend seien die «Individualisierung und optimierte Grössen bei der Passform », damit ein solcher Gegenstand «in unseren Alltag passt und auch Spass macht.»

Manuel Fischer

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