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«Das Just-in-time-Prinzip kann zum Versorgungsrisiko werden.»

Alfred Flessenkämper; Direktor des Bundesamtes für wirtschaftliche LandesversorgungAlfred Flessenkämper, stellvertretender Direktor des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung, vertrat am 7. GS1 Forum Logistics & Supply Chain vom 7. März 2012 in Baden die Position der Bundesbehörden. Er sprach zum Thema «Versorgungssicherheit in Krisen – Beitrag der wirtschaftlichen Landesversorgung ». Die Redaktion von GS1 network hat nachgefragt.

(bs/jw)GS1 network: Wie gehen Sie mit den Begriffen «Krise» und «Katastrophe» konkret um und wie definieren Sie diese?
Sind das graduelle oder prinzipielle Unterschiede? Alfred Flessenkämper: Der Unterschied zwischen einer Krise und einer Katastrophe lässt sich am besten mit einem Zitat von Max Frisch veranschaulichen: «Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.» Genau darin besteht die Kernaufgabe der Landesversorgung. Wir haben den Verfassungsauftrag, dafür zu sorgen, dass schwere Versorgungsstörungen und Mangellagen mit geeigneten Massnahmen überwunden werden – oder kurz, dass eine Versorgungskrise nicht zur Katastrophe wird.

Das Tagungsthema am 7. März 2012 im Rahmen des GS1 Forums Logistics & Supply Chain in Baden hiess: «Sind unsere Supply Chains sicher – auch in einer Notlage?» Wie beantworten Sie diese Frage aus Sichtdes BWL? Wie sicher sind unsere Versorgungsketten in Krisen ganz allgemein?
Die Regale in den heutigen Einkaufszentren sind voll, die Lagerhäuser (und damit die Pufferzonen für Versorgungsstörungen) hingegen auf ein Minimum reduziert. Die vollen Regale verdanken wir einem perfekten Zusammenspiel unzähliger Glieder in den weltweiten Supply Chains. Diese sind hochgradig vernetzt und von funktionierenden technischen Infrastrukturen abhängig. Das macht sie verletzlich und störungsanfällig.
Die rohstoffarme, importabhängige Schweiz sieht sich bei der Absicherung ihrer Versorgungsketten mit besonders grossen Herausforderungen konfrontiert. Kommt es zu politischen Spannungen in Lieferstaaten, Streiks, Naturereignissen oder auch technischen Störungen, so kann die Versorgung unseres Landes gefährdet sein. Wie sicher unsere Supply Chains in solchen Krisensituationen dann effektiv noch sind, hängt von der entsprechenden Krisenvorsorge und -bewältigung durch die betroffenen Akteure ab. Hier leistet die wirtschaftliche Landesversorgung einen Beitrag.

In der Schweiz ist Krisenvorsorge auch Aufgabe der meisten (privaten, nicht staatlichen) Unternehmen. Wie beurteilen Sie den derzeitigen Zustand dieser Krisenvorsorge?
Die von GS1 Schweiz durchgeführte Branchenumfrage hat eindrücklich vor Augen geführt, dass die Krisenvorsorge in der Unternehmenspraxis noch verbesserungsfähig ist. Man ist sich drohender Risiken und Gefährdungen oft zu wenig bewusst. Mit unserem Ratgeber «Unternehmenserfolg nachhaltig sichern – auch im Krisenfall» wollen wir Unternehmen für verschiedene Aspekte des betrieblichen Kontinuitätsmanagements sensibilisieren. Die Broschüre, die auch von GS1 Schweiz unterstützt wird, zeigt, wie Firmen oder Organisationen auch unter schwierigen Bedingungen handlungsfähig bleiben.

Sie haben in Ihrem Referat am 7. März 2012 unter anderem gesagt: «Organisationen mit einem betrieblichen Kontinuitätsmanagement (bzw. mit einem Business Continuity Management oder kurz: BCM) sind besser auf Störungen und Krisen vorbereitet.» Was verstehen Sie darunter?
Viele Unternehmen machen sich schon heute mehr oder weniger systematisch Gedanken zur Krisenvorsorge. Diejenigen mit einem systematischen BCM sind allerdings besser auf Krisenereignisse vorbereitet. Denn sie überblicken jederzeit die Geschäftsprozesse und Ressourcen, von denen ihr Betrieb abhängt. Dieses Wissen erlaubt es ihnen, auf Marktveränderungen rasch und flexibel zu reagieren. So sind sie beispielsweise in der Lage, kritische Zulieferer frühzeitig zu erkennen und bei Bedarf ihre Supply Chains zu optimieren, sei dies über Puffermechanismen (Lagerbestände an Rohstoffen und Halbfabrikaten), über langfristige Lieferverträge oder über Möglichkeiten, auf alternative Lieferanten auszuweichen.

Welche Bedeutung hat die Transportlogistik im Hinblick auf sichere Versorgungsketten? Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass offenbar immer mehr Lagervorräte auf ein Minimum reduziert werden und sich immer mehr Unternehmen nach dem Prinzip Just-in-time richten. Kann das zum Versorgungsrisiko werden?
Ja, das Just-in-time-Prinzip kann zum Versorgungsrisiko werden. Es bestehen heute, wie bereits gesagt, kaum noch Möglichkeiten, bei Problemen der Transportlogistik auf Lagervorräte oder zusätzliche Produktionskapazitäten zurückzugreifen. Getrieben vom globalen Wettbewerbsdruck, schöpfen Marktteilnehmer alle erdenklichen Möglichkeiten der Kostenoptimierung aus und begeben sich damit in kritische Abhängigkeiten.
Ohne eine reibungslos funktionierende grenzüberschreitende Transportlogistik ist die Versorgungssicherheit der Schweiz nicht gewährleistet. Kommt es zu Fehlern oder Störungen entlang der Versorgungsketten (zum Beispiel bei einem Rohstofflieferanten oder bei einem zentralen Logistikdienstleister), können sich diese kaskadenartig auf ganze Branchen auswirken.

Die wirtschaftliche Landesversorgung hat den Verfassungsauftrag, dafür zu sorgen, dass die wichtigsten Güter und Dienstleistungen auch in einer Krise verfügbar bleiben. Welche Güter und Dienstleistungen sind das?
Es handelt sich um Güter und Dienstleistungen, die für das Funktionieren einer modernen Wirtschaft und Gesellschaft auch in einer Krise unentbehrlich sind. Dazu gehören Grundnahrungsmittel (zum Beispiel Getreide, Speiseöle und -fette), Treib- und Brennstoffe, industrielle Hilfsstoffe (zum Beispiel Kunststoffgranulate) und bestimmte Heilmittel (zum Beispiel Antibiotika oder antivirale Medikamente) genauso wie Dienstleistungen und Infrastrukturen der Transportlogistik sowie Informationstechnologien. Dabei gibt es keine abschliessende Liste von lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen. Aufgrund von Gefährdungsanalysen muss immer wieder von Neuem beurteilt werden, was «lebenswichtig» im Sinne der wirtschaftlichen Landesversorgung aktuell bedeutet.

Alfred Flessenkämper; Direktor des Bundesamtes für wirtschaftliche LandesversorgungUnd für welchen Zeitraum sind die Krisenszenarien angelegt? Wie lange kann sich die Schweiz in einer Krise selbst versorgen?
Die wirtschaftliche Landesversorgung fokussiert auf kurz- und mittelfristige sektorielle Störungen. Tritt eine solche Störung auf, wird interveniert. In einer ersten Phase versuchen wir die Vollversorgung mit elementaren Gütern sicherzustellen, bei denen eine Unterversorgung besteht. Dazu können wir unter anderem auf Pflichtlager zurückgreifen, welche von Handels- und Produktionsfirmen auf vertraglicher Basis gehalten werden. Hierbei handelt es sich um bestimmte Grundnahrungsmittel, Energieträger und Heilmittel, die in Krisen erfahrungsgemäss knapp werden und in der Schweiz nicht oder zu wenig vorhanden sind. Die gelagerten Mengen decken durchschnittlich den Bedarf des Landes für rund viereinhalb Monate. Wir gehen nicht davon aus, dass sich die Schweiz in einerVersorgungskrise vollkommen selbst versorgen müsste. Folglich fokussieren unsere Massnahmen nicht bloss auf die Vorratshaltung, sondern auch auf die Sicherstellung von Dienstleistungen und Infrastrukturen, welche für die Aufrechterhaltung grenzüberschreitender Versorgungsketten erforderlich sind.

Sie bauen gegenwärtig mit den drei Verbänden GS1, Spedlogswiss und Swiss Shippers’ Council den «Nationalen Ausschuss für Transportlogistik (NATRAL)» auf. Warum braucht es dieses neue Gremium? Genügt die alte Struktur und Organisation nicht mehr? Was ändert gegenüber früher?
NATRAL baut auf bestehenden Branchenstrukturen auf und soll das Scharnier zwischen Staat und Privatwirtschaft bei der Sicherstellung von Versorgungsketten bilden. Angesichts der wachsenden Komplexität, Bedeutung und Vernetzung moderner Logistikprozesse soll das bestehende Instrumentarium zur KrisenvorsorgeKriund -bewältigung den aktuellen und künftigen Herausforderungen angepasst werden. NATRAL kommt zum einen eine Beobachterfunktion zu: Die einzelnen Glieder entlang von Transportketten sollen im Rahmen eines Branchenmonitorings regelmässig überprüft werden. Damit können Hinweise zu Engpässen, Verwundbarkeiten und Handlungsoptionen ausgetauscht werden, wenn zum Beispiel die Rheinschifffahrt bei Niedrig- oder Hochwasser eingeschränkt ist, wenn in Frankreichs Häfen gestreikt wird oder wenn Teile des Schienen- oder Strassennetzes ausfallen.
Zudem soll der Ausschuss im Krisenfall auch Massnahmen der wirtschaftlichen Landesversorgung branchenweit koordinieren und umsetzen. Schliesslich ist langfristig vorgesehen, dass mit NATRAL die Widerstandsfähigkeit der Transportlogistik gestärkt wird – etwa mithilfe von Branchenvereinbarungen. Dies wird nicht nur der Transportlogistik, sondern dem gesamten Wirtschaftsstandort Schweiz zugute kommen.

Wie gehen Sie in einem Krisenfall konkret vor? Gibt es konkrete, zum Voraus definierte Handlungsabläufe? Sind auch extrem kurzfristige Szenarien dabei?
Grundsätzlich hängt das konkrete Vorgehen der wirtschaftlichen Landesversorgung zur Bewältigung von Versorgungskrisen vom jeweiligen Ereignis ab. Selbstverständlich sind dabei unsere internen Abläufe gemäss den Anforderungen an ein effektives Krisenmanagement festgelegt. Nehmen wir das Beispiel eines sehr kurzfristigen Szenarios: Würden unsere Lageanalysen einen unerwarteten Engpass im Schweizer Erdölmarkt (zum Beispiel aufgrund eingeschränkter Importkapazitäten) feststellen, könnte der Bund Pflichtlagerbestände an Mineralölprodukten freigeben. Damit liesse sich temporär eine Vollversorgung und auch eine Beruhigung des Marktes erreichen. Eine solche Pflichtlagerfreigabe ist problemlos umsetzbar. Die Massnahme kann innert weniger Tage in Kraft gesetzt werden. Mit ihr gewinnen die zuständigen Behörden in einer Krisensituation die notwendige Zeit und den erforderlichen Handlungsspielraum, um bei Bedarf weiterführende Massnahmen ergreifen zu können.

Sie haben in Ihrem Referat unter anderem auch gesagt, dass die wirtschaftliche Landesversorgung einen intersektoriellen Ansatz verfolge. Was heisst das genau?
Das heisst konkret, dass die wirtschaftliche Landesversorgung die Krisenvorsorge zwischen den verschiedenen Wirtschaftssektoren koordiniert. Wir können unseren Verfassungsauftrag nur erfüllen, wenn wir uns auf die intersektoriellen Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten konzentrieren unddie Versorgungssicherung als Gesamtsystem über die Sektorengrenzen hinweg betrachten. Dies erreichen wir mit unserem einmaligen System der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat.
Die wirtschaftliche Landesversorgung besteht aus rund 300 Vertretern aller wichtigen Branchen der Schweizer Wirtschaft. Diese bringen ihr Fachwissen und ihre Netzwerke ein, tauschen sich regelmässig über die aktuelle Versorgungslage aus und planen Massnahmen zur Vorsorge und Bewältigung von Krisenereignissen. Unterstützt und koordiniert wird das Ganze vom Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL), welches diestaatliche Seite in diesem Kooperationsmodell vertritt.

Die Krisenvorsorge wird vom BWL unter Einbezug der relevanten Wirtschaftssektoren koordiniert. Wer leitet dieses Gremium in einem Notfall ganz konkret?
Die oberste Verantwortung liegt bei der Delegierten für wirtschaftliche Landesversorgung. Gemäss dem Milizprinzip stammt diese aus der Privatwirtschaft und übt die strategische Führung unserer Organisation im Nebenamt aus. Seit September 2006 wird die Funktion von Frau Gisèle Girgis-Musy ausgeübt. Sie ist Mitglied der Generaldirektion des Migros-Genossenschaftsbundes.

Welche Rolle spielt die Kommunikation in einer Krise? Wird die Krisenkommunikation durch Sie oder durch eine andere Bundesstelle – zum Beispiel die Bundeskanzlei – vorbereitet bzw. gewährleistet?
Die Kommunikation ist in einer Krise von ganz entscheidender Bedeutung. Die Bevölkerung sieht sich unter Umständen mit existenzbedrohenden Problemen konfrontiert und ist deshalb in besonderem Masse auf Informationen über Versorgungslage und Massnahmen angewiesen. In unserer Kommunikationsstrategie geht es um die rasche und kompetente Auskunftserteilung auf Anfragen der Medienschaffenden und der Bevölkerung, die aktive Information der Bevölkerung durch die Behörden sowie die Vermeidung von Panikreaktionen, indem wir offen und umfassend über Massnahmen der wirtschaftlichen Landesversorgung, Auswirkungen, Versorgungslage und Perspektiven orientieren. Die von uns vorbereiteten Kommunikationsmassnahmen werden in enger Zusammenarbeit mit unserem Departement – dem EVD – und der Bundeskanzlei umgesetzt.

Zur Person
Alfred Flessenkämper (1962, verheiratet, drei Kinder) ist seit 2009 stellvertretender Direktor des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung. Zwischen 2002 und 2009 war er bei der Schweizerischen Nationalbank tätig, zuletzt als Leiter des Fachbereichs Finanzen und stellvertretender Direktor. 1995 bis 2002 leitete er den Dienst für Finanz- und Wirtschaftsfragen im Generalsekretariat des Eidgenössischen Departements des Innern.

Die Fragen stellte Bernhard Stricker.
Mitarbeit: Jonas Willisegger, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Direktion BWL

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