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Perspektiven, Prozesse, Praxis

68 Milliarden Franken kostet das Gesundheitswesen. Laut der bundesrätlichen Reformagenda «Gesundheit2020» können die heutigen Leistungen ohne Qualitätseinbussen 20 Prozent günstiger erbracht werden. Auch die Studie und Umsetzungsempfehlungen «Spital der Zukunft» von GS1 Schweiz zeigen Massnahmen zur Effizienzsteigerung und Qualitätsverbesserung.

Die Menschen in der Schweiz profitieren von einem guten Gesundheitssystem. Zu dieser Ansicht kamen auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In einer Befragung des Commonwealth Fund sagten 69 Prozent der antwortenden Schweizer Patientinnen und Patienten, das Gesundheitssystem funktioniere insgesamt gut und man solle es nur geringfügig ändern, um es weiter zu verbessern.

Gemeinsame Strategie
Zu den Stärken gehören der garantierte Zugang zur Gesundheitsversorgung und deren hohe Qualität. Das System zeigt aber auch Schwächen. Seine Transparenz ist beschränkt, und viele Prozesse und der damit verbundene Daten- und Informationsaustausch sind nicht durchgängig. Der Bericht gruppiert die zahlreichen Herausforderungen in vier Problembereiche, darunter die Behebung der mangelnden Steuerbarkeit und der fehlenden Transparenz.
Um den Status quo in der Gesundheitsversorgung zu sichern, die Schwächen nachhaltig zu beseitigen und die Herausforderungen meistern zu können, hat der Bundesrat im Rahmen der der Reformagenda «Gesundheit2020» vier übergeordnete Handlungsfelder festgelegt:
• Lebensqualität sichern
• Chancengleichheit und Selbstverantwortung stärken
• Versorgungsqualität sichern und erhöhen
• Transparenz schaffen, besser steuern und koordinieren

Insgesamt sind 36 Massnahmen vorgesehen, welche die bereits laufenden gesundheitspolitischen Reformen ergänzen und vertiefen. In diesen Prozess werden alle wichtigen Akteure wie die Kantone, Leistungserbringer, NGOs, Wissenschaft und Wirtschaft miteinbezogen. Nur wenn «Gesundheit2020 » von allen Partnern mitgestaltet und getragen wird, können die gesteckten Ziele erreicht werden.

Spital der Zukunft
Ein Drittel der Gesundheitsausgaben fällt in Spitälern an. Zu den Hauptaufgaben eines Spitals zählt die ärztliche und pflegerische Hilfeleistung bei Krankheiten, Leiden oder körperlichen Schäden. Zahlreiche Abläufe, Strukturen sowie verschiedenste Bereiche und Funktionsabteilungen, wie Orthopädie, Unfallchirurgie, Dermatologie, Verwaltung, Apotheke, Labor, Wäscherei, Küche usw., stehen rund um die Uhr im Dienst der Patienten.

Um die optimale Patientenversorgung zu gewährleisten, stellt die Spitallogistik sämtliche benötigten Ressourcen sicher. Egal ob Personal, Operationssäle, Betten, Medikamente, Lieferanten oder Dienstleister: die Aufgaben sind vielfältig und unerlässlich. Ein wichtiges Thema mit viel Potenzial, geringer Dynamik und hohen Einsparungsmöglichkeiten. Die Studie «Spital der Zukunft» hat die Logistikprozesse in Spitälern unter die Lupe genommen. Was wann und wo abgegeben, verbraucht oder angeschafft wird, bleibt oft verborgen.

Für die Autoren der Studie, Prof. Jürgen Holm und Prof. Michael Lehmann von der Berner Fachhochschule, ist der Informationsfluss denn auch das entscheidende Element für eine sichere Versorgungskette im Spital der Zukunft. Gemäss Holm ist dieser heute keineswegs sichergestellt: «Viele manuelle Eingriffe und Medienbrüche im Versorgungsablauf verschlechtern die Effizienz und Effektivität.» Um eine reibungslos funktionierende Supply Chain zu erreichen, brauche es die Integration von ICT-Systemen im Spital. Die Leistungserbringer müssten mit der Logistik, der Spitaladministration und -informatik ein gemeinsames Verständnis der Prozesse entwickeln, Standards einführen und umsetzen, erklärt Holm.

Neben effizienten Abläufen und optimaler Logistik tragen die medizinischen Leistungen des gesamten Personals entscheidend zur Qualität im Krankenhaus bei. Im Oktober 2012 gelangte das internationale Beratungs- unternehmen McKinsey & Company in seiner Studie «Strength in unity: The promise of global standards in healthcare » zum Schluss, dass Standards für das Gesundheitswesen in dieser von einem enormen Strukturwandel geprägten Branche entscheidende Vorteile liefern. Standards unterstützen zahlreiche digitale Prozesse im Supply Chain Management, erhöhen die Patientensicherheit und die Patienten- Compliance.

Die Erkenntnis ist klar: Es braucht eine internationale Strategie auf allen Stufen der Wertschöpfung. Dadurch kann es den Regulatoren gelingen, eine gemeinsame Vision und ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln. «Die grösste Schwäche des Gesundheitssystems liegt darin, dass man sich zu sehr auf die Preise anstatt auf die Prozesse fokussiert», so Nicolas Florin, CEO von GS1 Schweiz und Initiator der Studie «Spital der Zukunft».

IXPRA zeigt Informationsbrüche
«Mit dem Projekt wollen wir einen konkreten Beitrag zur Verbesserung der Leistungs- und Wertschöpfungskette im Gesundheitswesen leisten», erklärt Valentin Wepfer, Mitinitiator der Studie. «Die ganzheitliche Betrachtung ist der Schlüssel.» Um die Ursachen der heutigen Situation zu verstehen, wurde im Rahmen der Studie in einem ersten Schritt der Medikationsprozess aus Patientensicht inklusive der technischen und personellen Schnittstellen dokumentiert. Das Projektteam hat eigens dafür das Prozessanalyse-Werkzeug IXPRA entwickelt.

IXPRA steht für «Interface Crossculture Process Analysis Tool». Die zu untersuchenden Prozesse werden in einer Matrix dargestellt, die es erlaubt, jeden Teilschritt und die damit verbundene und erbrachte Anwendung sowie die involvierten Parteien abzubilden. Egal ob es sich dabei um das Bereitstellen der Medikamente, die Medikamentenkontrolle die Medikamentenabgabe oder die Medikamentendokumentation handelt – jeder einzelne Arbeitsschritt wird in IXPRA erfasst. Das Prozessanalyse-Werkzeug ermöglicht es, einzelne Spitalprozesse im Kontext ihrer technischen, personellen und kulturellen Schnittstellen zu identifizieren.

Die eigentliche Innovation an IXPRA ist die Interaktionsschicht. Hier werden zu jedem Prozessschritt die verwendeten Dokumentationssysteme und involvierten Personengruppen beschrieben und nach klinischer und administrativer Sichtweise dargestellt. So werden jeder Arbeitsschritt, alle beteiligten Softwaresysteme und die einzelnen Berufsgruppen detailliert erfasst. Der so gewonnene Überblick über alle Teilarbeitsschritte mit der beteiligten Informatik und den Mitarbeitern wird auf technische und kulturelle Brüche hin analysiert. Sind Bruchstellen vorhanden, werden diese mit den beteiligten Berufsgruppen und mit Personen aus der Informatik besprochen. «Dank diesem Vorgehen wird rasch sichtbar, an welchen Stellen der Informationsfluss unterbrochen wird», so Jürgen Holm.

Im Ergebnis lassen sich die Interaktionen aufzeigen, und nicht vorhandene Schnittstellen technischer oder kultureller Natur werden aufgedeckt. Die Synthese und Interpretation der Ergebnisse zeigt auf, dass sich bestimmte Schwerpunkte bilden lassen, welche die häufigen Unterbrüche oder das Nichtfunktionieren der Supply Chain im Spital bedingen. Bruchstellen werden durch Geräteeinsatz zu Schnittstellen, indem beispielsweise der Barcode auf der Medikamentenpackung beim Verlassen des Lagers gescannt wird. So lässt sich der physische Weg der Packung nachverfolgen. Daraus – so das Modell der Zukunft – entsteht ein durchgängiger Informationsfluss, was letztlich auch die Patientensicherheit erhöht.

Erfolgreicher Praxistest
Erste Testläufe im Spitalzentrum Biel waren erfolgreich. Laut Spitaldirektor Bruno Letsch konnte durch die Anwendung von IXPRA ein gemeinsames Verständnis für die Prozesse geschaffen werden. Problematische Schnittstellen wurden identifiziert und behoben, indem auf der neu geschaffenen Lean-Bettenstation eine abgetrennte Medikamentenrichtzone eingerichtet wurde und die Aufgaben zwischen Pflege und Spitalapotheke neu abgegrenzt wurden. Anlässlich der Pressekonferenz zu «Spital der Zukunft» vom 21. Mai 2015 zog Letsch ein positives Fazit: «Eine hohe Patientensicherheit und Prozesseffizienz sind strategische Erfolgsfaktoren für die Spitäler. Die Studie hat uns geholfen, Verbesserungspotenziale zu erkennen und praxistaugliche Massnahmen umzusetzen.»

Joachim Heldt

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