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Es war einmal … die Logistik

Wenn ein Grossvater 2050 mit seinem Enkel über Logistik redet, wird der Enkel sich kaum vorstellen können, wie man ohne Drohnen und autonome Fahrzeuge arbeiten konnte.Wir schreiben das Jahr 2050. Der achtzigjährige Grossvater, der sein Arbeitsleben lang in der Logistik tätig war, und sein sechzehnjähriger Enkel sitzen im Schatten einer Weide im Garten des rüstigen alten Mannes und reden über Gott und die Welt, vor allem, wie es bei Gesprächen mit Grosseltern üblich ist, über die Vergangenheit.

«Was, damals habt ihr tatsächlich noch nach Argumenten gesucht, die Menschen von Cloud Computing und Big- Data-Anwendungen zu überzeugen?» Der Enkel starrt seinen Grossvater fassungslos an.

«Uns Deutsche konnte man in den Jahrzehnten um die Jahrtausendwende nur mühsam vom Fortschritt überzeugen», seufzt der Grossvater. «Schon das Risiko eines Risikos wurde zum Anlass genommen, gegen neue Technologien vorzugehen. Der Weg in die Zukunft bestand in der Sicht des Mainstreams meiner Jugendzeit aus Verzicht statt Ausprobieren und Forschen. »

«Aber schlussendlich hat sich doch der Fortschritt durchgesetzt. Cloud, Smartphones, Onlinehandel wurden zur Selbstverständlichkeit und 4DDruck ist längst Alltag.»

«Ja. Aus 3D wurde 4D. Schon um 2020 konnte zu markttauglichen Preisen Kleidung aus Materialien hergestellt werden, die sich zunächst nach Art des 3D-Drucks zu festen Strukturen formten, beim Überziehen dann durch die Körperwärme elastisch wurden und sich den Körperformen fliessend anpassten. »

«Für euch Logistiker muss das doch eine völlige Umkrempelung eurer Geschäftsmodelle bedeutet haben. Wie haben denn dann damals die Logistikunternehmen überlebt?»

«Naja, es hatte ja schon lange eine Konsolidierung unter den Logistikunternehmen gegeben. Der Wettbewerbsdruck führte dazu, dass immer mehr kleinere und mittelständische Unternehmen vom Markt verschwanden. Die überlebenden Unternehmen verlegten sich auf clevere Services, insbesondere für den Transport auf der letzten Meile. Denn Ferntransporte von fertigen oder halbfertigen Produkten verzeichneten einen so starken Rückgang, dass nur Platz für wenige spezialisierte Player blieb. Und der Durchbruch bei der 3D- und 4D-Druck- Technologie führte dazu, dass die meisten Produkte direkt von den Kunden selbst hergestellt wurden. Tatsächlich überregional oder global transportiert wurden vor allem Rohstoffe. Die Logistikunternehmen kämpften mit individuellen Dienstleistungskonzepten um die Kunden, wobei das wichtigste Marktsegment im Transportsektor durch lokale und regionale Logistik dominiert wurde. Die neuen Geschäftsmodelle veränderten das Bild vom Logistiker bis zur Unkenntlichkeit. »

«In erster Linie übernahmen sie doch einfach den Transport der Druckermaterialien, oder?»

«Am Anfang schon, aber bald entstanden völlig neue Dienstleistungen. Schliesslich bestand der Logistikanteil beim Drucken der unzähligen Waren nicht nur darin, Rohmaterialien zu transportieren. Jeder Mensch konnte plötzlich sein eigenes individuelles Design entwickeln und dann per Drucker produzieren. Aber wer übernimmt es, die ganzen Vorlagen und Blaupausen für Design und Konstruktion in den Drucker zu schicken? Genau daraus ergaben sich ganz neue Geschäftsmodelle für die Logistiker. Die cleversten hatten ganzheitliche Wertschöpfungsketten im Programm: Drucker, Rohmaterialien, Datenaustauschservices und Ideenkataloge. Logistikfirmen übernahmen auch die komplette Produktionssteuerung der 4D-Druck-Welt. Ein Logistiker musste einfach nur schlau sein, dann lagen ihm Wege zum Gewinn offen, die in der Margenklemme Anfang des Jahrhunderts niemand auch nur ahnen konnte.»

«Du darfst aber nicht vergessen, dass diese Schlauheit durch viele technologische Fortschritte erst ermöglicht worden ist.»

«Da hast du wohl recht. Vor allem die künstliche Intelligenz war eine Revolution. Ein einziger sprachgesteuerter Befehl löst eine Ereignisfolge entlang der ganzen Wertschöpfungskette aus, und der Logistikexperte ist die zentrale Schaltstelle für die Organisation der Erfüllung eines Wunsches. Wenn du heute in deinen Kommunikator sprichst: ‹Ich brauche in zehn Tagen ein Geschenk für Tante Sandy, Preislage soundso, Interessen und Neigungen soundso›, dann laufen die Prozesse automatisiert ab, die vom Angebot bis zur Realisierung des fertigen Produkts oder der perfekten Dienstleistung reichen. Verwaltet, gesteuert und abgerechnet wird alles von der Fulfillment- Abteilung des Anbieters.»

«Man kann es gar nicht glauben, dass man Logistik früher fast ausschliesslich mit Verkehrsstaus und riesigen Lkw- Rastplätzen an Autobahnen verbunden hat.»

«Ja, aber so war es. Noch kurz bevor die selbstfahrenden Autos die Strassen eroberten, haben Spediteure händeringend nach Fahrern gesucht. Die Logistiker hatten mit einem miserablen Image zu kämpfen. Erst mit dem Aufkommen der selbstfahrenden Lkws, die durch Elektro- und Wasserstoffantriebe auch kein gravierendes Umweltrisiko mehr darstellten, änderte sich das Bild in der Öffentlichkeit.»

«Letztlich haben autonome Fahrzeuge ja nicht nur die Logistik, sondern alle Lebensbereiche fundamental verändert. »

«Ja. Wer zu meiner Jugendzeit behauptet hätte, Selbstfahren würde einmal ein Straftatbestand wegen Gefährdung der Mitbürger werden, wäre als Witzbold ausgelacht worden. Alle Arten von Transporten profitieren natürlich von dieser Kombination aus Automatisierung und künstlicher Intelligenz. Besonders auf der letzten Meile in grossen Städten lassen sich Waren erst schnell und unkompliziert zustellen, seit die automatisierte Verkehrsinfrastruktur Staus und Wartezeiten abgeschafft hat. Bei manchen Gütern helfen ja auch die allgegenwärtigen Roboter beim Be- und Entladen. Nicht zuletzt fliegende Roboter, die Drohnen, verliehen der Logistik ein völlig neues Gesicht.»

«Erstaunlich, dass sie dann doch auch in Städten fliegen durften, sogar in Deutschland.»

«Das verdanken sie auch dem technologischen Fortschritt. In dem Mass, wie selbstfahrende Autos und vollautomatisierte Verkehrsüberwachung mit der digital vernetzten städtischen Infrastruktur zu einer Einheit verschmolzen wurden, war es auch möglich, Drohnen sicher in dieses Netz zu integrieren.»

«Kann man denn heute überhaupt noch von Logistik reden? Muss man nicht einen neuen Begriff einführen? Schliesslich könnte heute doch kein Logistiker mehr selbstständig einen Lkw fahren – selbst wenn er es dürfte.»

«Logistik ist ja nicht vom Transportmittel abhängig. Sie steuert und organisiert einfach Bewegungsprozesse von Menschen, Material, Energie und Information. Wie die Transportmittel aussehen, ist dabei unerheblich. Heute kann man Logistiker sein, ohne in der Region beheimatet zu sein, die man versorgen will. Alles eine Sache der Technologie und der Organisation. Unternehmen aus allen Kontinenten entwickeln und betreiben schon seit Jahrzehnten die Erschliessung von Rohstoffen auf Asteroiden und auf dem Mond und transportieren sie zur Erde. Wertschöpfungsketten beginnen im Weltraum und enden im Wohnzimmer von Tante Hermine. Die Herstellung von Produkten ist zu einer Dienstleistung geworden, in der Logistiker weitgehend alles steuern, was sich bewegt, von den nötigen Informationen bis zum Erscheinen des fertigen Objekts in den Händen des Verbrauchers. Wenn auch niemand mehr einen Vierzigtonner durch die Landschaft fährt, Logistik ist in ihrer erweiterten Gestalt so lebendig wie zu der Zeit als die Ägypter die Steinblöcke aus den Steinbrüchen zum Bauplatz der Pyramiden transportierten.»

Peter Voss

Logistik – eine Industrie, die (sich) bewegt
Der Beitrag ist erschienen in: Logistik – eine Industrie, die (sich) bewegt. Strategien und Lösungen entlang der Supply Chain 4.0. Herausgeber: Peter Voss, Dortmund. Gabler Verlag. ISBN 978-3-658-10609-6

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