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Bauteile der Bahn eindeutig identifizieren

Bahnmechaniker arbeitet an WagonDie Wartung, Reparatur und Überholung von Anlagen, Baugruppen und -teilen bei der Eisenbahn geschieht immer häufiger im Kontext einer fragmentierten Supply Chain über Landes- und Unternehmensgrenzen hinweg. Die Bahngesellschaften und die Industrie streben transparente und durchgängige Materialund Informationsflüsse an. Dabei setzen sie auf das GS1 System.

Die Eisenbahn ist ein komplexes Räderwerk, das im filigranen und zuverlässigen Zusammenspiel von Infrastruktur (Trassees, Geleise, Fahrleitungen usw.) und Rollmaterial (Lokomotiven, Triebzüge, Waggons usw.) seine Verkehrsdienstleistung erbringt. Das reibungslose Funktionieren des «Systems Bahn» erfordert seit jeher stabile Prozesse im täglichen Betrieb wie auch im Unterhalt und in der Beschaffungslogistik.

Bahn frei für Europa
Jahrzehntelang oblagen die Beschaffung, die Lagerung und der Unterhalt von Anlagen und Bauteilen für die Eisenbahn den staatlichen Monopol- Akteuren; in der Regel ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, das in nationalen Grenzen operierte. Jedes dieser Unternehmen strukturierte die Beschaffung der zahlreichen Bauteile für die Bahn nach einem eigenen Klassifizierungssystem; die Anbieter systemrelevanter Teile hatten sich anzupassen. Der nationale Bezugsrahmen des Systems Bahn wird jedoch im Rahmen der Harmonisierung und Liberalisierung des europäischen Eisenbahn Marktes seit einiger Zeit sukzessive aufgebrochen. So ist es Konsens innerhalb der europäischen Politik, den Schienengüterverkehr gegenüber dem Strassentransport wettbewerbsfähiger zu gestalten. Zwar sind die Schienengüterverkehrsdienste seit rund einem Jahrzehnt für den Wettbewerb geöffnet. Doch die Entwicklung eines integrierten Bahnsystems in der EU ist bisher durch unterschiedliche Technik und regionale Sicherheitsvorschriften behindert. Deswegen gründete die EU im Jahr 2004 die Europäische Eisenbahnagentur (ERA); diese hat zur Aufgabe, die Sicherheit und Interoperabilität des Schienenverkehrs innerhalb Europas zu stärken. Verordnungen der EU machen überdies harte Auflagen bezüglich des Risikomanagements bahntechnischer Anlagen.

Fragmentierte Supply Chain
Die Internationalisierung der Märkte betrifft demnach nicht nur den Schienengüterverkehr, sondern gilt auch für die Beschaffung von Rollmaterial, Anlagen und Bauteilen für die Bahn. Durch die fortschreitende Spezialisierung im Anlagenbau wird die Supply Chain fragmentiert; es entstehen neue Schnittstellen. Das System Bahn steht zudem unter Kostendruck bei gleichzeitig höherem Verkehrsaufkommen im Passagierverkehr: Es verkehren mehr Züge in kürzeren Abständen, die Infrastruktur wird intensiver genutzt. Steigende Anforderungen an das Qualitäts- und Sicherheitsmanagement sowie an die Verfügbarkeit von Materialien verlangen eine effektivere und effizientere Materialbewirtschaftung. Die oben erwähnte Fragmentierung hat beispielsweise zur Folge, dass ein Unternehmen mit der Instandsetzung eines Objekts betraut ist, ein anderes dasselbe Objekt lagert und ein drittes dieses wieder in ein Fahrzeug einbaut. Zur Steigerung der Funktionssicherheit und Zuverlässigkeit solcher Bauteile und Baugruppen gehört auch deren zweifelsfreie Identifikation und Rückverfolgbarkeit – über Landes- und Unternehmensgrenzen hinweg. Die Bahngesellschaften streben schon seit Längerem transparente und durchgängige Material- und Informationsflüsse über den gesamten Lebenszyklus von Fahrzeugen und deren Bauteilen an. Hierzu braucht es nicht nur eine Norm zur eindeutigen Identifikation von Objekten innerhalb der Supply Chain. Es liegt auf der Hand, dass die Partner des Systems Bahn Stamm-, Bewegungs- und Ereignisdaten zu «systemkritischen» Bauteilen ebenfalls erfassen, kennen und austauschen wollen. Man nehme als Beispiel den Radsatz eines Schienenfahrzeugs. Hier sind Fragen eindeutig zu klären: Wer ist der Hersteller? Herstellungsjahr? Welche Produktionscharge? Wann traten Störungen auf? Welche Aufarbeitungsvorgänge? Einbauort? usw. Bei der Suche nach einer «globalen Sprache» für die Eisenbahnindustrie galt es die branchenspezifisch langfristige Denkweise zu berücksichtigen, denn der Lebenszyklus von Bauteilen und Komponenten erstreckt sich über Jahrzehnte, von der Produktion über Lagerung, Einbau, Betrieb und Instandhaltung bis zur Verschrottung.

Langfristiger Zeithorizont
Man entschied sich für das GS1 System als branchenunabhängigen und zugleich in vielen bahnnahen Bereichen weltweit genutzten Standard. Dominik Halbeisen, Senior Projektleiter Supply Chain Management, ist bei der SBB für die konzernweite Koordination des Themas Produktidentifikation und somit auch der GS1 Standards im Bahnwesen verantwortlich: «Historisch gesehen ist das GS1 System in der Lebensmittel- und Konsumgüterindustrie verankert. Diese Güter sind eben dadurch charakterisiert, dass sie schnell verbraucht werden. Die Eisenbahnindustrie hat einen völlig anderen Fokus, wie die kürzlich auf GS1 umgestiegenen Sektoren Rüstung und Medizinaltechnik, da einmal beschaffte Komponenten jahrzehntelang, ja bis zu 60 Jahre im Einsatz sind.» So gesehen mag es erstaunen, dass trotz der Andersartigkeit dieser Branche GS1 Standards zum Zuge kommen. Doch die Logik und Systematik von GS1 bietet in ihrer flächendeckenden Nutzung Vorteile, die bereits von anderen Branchen erkannt worden sind. Zusätzlich zum elektronischen Austausch von Daten haben die beteiligten Hersteller, Betreiber und Behörden weitere Verbesserungspotenziale im Visier: Die Logistikprozesse mit den Lieferanten und Sublieferanten werden optimiert. Das Fehler- und Instandhaltungsmanagement wird verbessert. Die eindeutige Kennzeichnung dient auch dem Plagiatsschutz der Hersteller.

Serialisierte Objekte
Die Eisenbahnindustrie hat als sicherheitsfokussierte Investitionsgüterbranche ihre spezifischen Anforderungen an ein Identifikationssystem; sie ist grundsätzlich mit zwei unterschiedlichen Identifikationsherausforderungen konfrontiert, wie Dominik Halbeisen erläutert. Einerseits müssen die Beteiligten in der Lieferkette wissen, um welche Artikel es sich handelt. Für die Frage nach der «Gruppenzugehörigkeit » von Bauteilen aller Art ist bei Wertschöpfungsketten mit mehr als zwei Akteuren die Kennzeichnung mit einer Global Trade Item Number (GTIN) das geeignete Instrument aus dem Werkzeugkasten des GS1 Systems. Wo erforderlich, will man aber auch wissen, um welches Individuum es sich handelt; hier muss die Einmaligkeit des Objekts geklärt werden. «Wir brauchen de facto eine global gültige AHV-Nummer für individuelle Instandhaltungsobjekte. Dies lösen wir im Rahmen des GS1 Systems mit der GIAI oder der sGTIN.» Das GS1 System bietet über die reine Identifikation von Anlagen oder Bauteilen hinaus weitere Lösungen an: Mithilfe des GS1 Application Identifier Standard ist eine Vielzahl weiterer Eigenschaften von Objekten codierbar (z. B. Charge, serialisierte Objekte, Produktionsdatum). Für die Codierung von GS1 Identifikationsnummern und weiterführender Zusatzinformationen eignen sich die Datenträger GS1-128 und GS1 DataMatrix. Im Falle von schwer zugänglichen Objekten bieten RFID-Funkchips zusätzlich die Möglichkeit, Informationen zu Bauteilen per Funk über mehrere Meter hinweg zu entschlüsseln.

Ausschreibungen
Inzwischen ist man weit fortgeschritten mit dem Life-Cycle-Tracking von Anlagen, Baugruppen und einzelnen Bauteilen auf der Basis von GS1. Die technischen Normen und Richtlinien sind geschrieben, die Umsetzung bei allen Akteuren wird jedoch Jahre dauern. Mehrere hundert Firmen europaweit, seien es Eisenbahnverkehrsunternehmen, Anlagenbauer oder Bauteilehersteller, sind bestrebt, sich einer harmonisierten Struktur nach dem GS1 System anzuschliessen. Zwar gibt es kein Gremium, das Etappenziele bei der Umsetzung überwacht. Dazu Dominik Halbeisen: «Es liegt noch sehr viel Arbeit vor uns. Aber das System wird sich durchsetzen. Bei Ausschreibungen für neues Rollmaterial oder Infrastrukturanlagen fordern die Bahngesellschaften von den Anbietern eine klare und eindeutige Kennzeichnung von Anlagen und Bauteilen, bis hin zur Nutzung von GS1 Standards.»

 Manuel Fischer

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