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Nulltoleranz für gefälschte Arzneimittel

Wichtige Verbände des schweizerischen Gesundheitswesens gründeten im April 2018 den schweizerischen Verband für die Verifizierung von Arzneimitteln SMVO. Das Ziel: Man will sicherstellen, dass keine gefälschten Arzneimittel in die offiziellen Vertriebskanäle gelangen können. Die Schweiz vollzieht damit auf freiwilliger Basis nach, was in der Europäischen Union (EU) ab Februar 2019 Gültigkeit haben wird. 

Patientensicherheit ist ein hohes Gut, das durch gefälschte Medikamente immer wieder in Gefahr gebracht wird. Denn hinter gefälschten Verpackungen können sich Präparate mit falsch deklarierten, verdünnten oder fehlenden Wirkstoffen verbergen. Durch täuschend echte Verpackung oder eine Neuverpackung in Originalschachteln werden Händler, Fachpersonen und Patienten irregeleitet, was den tatsächlichen Inhalt betrifft. Den vielfältigen Gefahren gefälschter Medikamente treten die Gesetzgeber seit einigen Jahren entschlossen durch den Erlass nationaler und supranationaler Fälschungsrichtlinien entgegen. Die im Februar 2016 publizierte Rechtsakte (EU) 2016/161 fordert die im EUMarkt tätige Pharmaindustrie zu umfangreichen Anpassungen auf ihren Arzneimittelverpackungen auf. Sie ist ab Stichtag 9. Februar 2019 gültig und umfasst zwei Kernpunkte:

  • Artikel 4 verlangt das Anbringen eines individuellen Erkennungsmerkmals in Form eines DataMatrix auf der Verpackung eines Arzneimittels. Es umfasst mindestens folgende Datenelemente: einen Produktcode, eine Chargennummer, das Verfalldatum und eine nach Zufallsprinzip vergebene Seriennummer (aus höchstens 20 Zeichen).
  • Zudem verpflichtet die Rechtsakte auch zum Aufbau eines flächendeckenden Datenspeicherungssystems, das die Verifikation jeder einzelnen Medikamentenpackung vor Abgabe an den Patienten erlaubt. Auch die Nicht-EU-Staaten Island und Norwegen sind, aufgrund vertraglicher Anbindungen an den Europäischen Wirtschaftsraum, dazu verpflichtet

 

Die Schweiz zieht mit – verzögert
Für die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied sieht die Situation ein wenig anders aus. Unser Land unterzeichnete 2011 die sogenannte Medicrime-Konvention des Europarates, das erste internationale Übereinkommen mit dem Ziel, die Gefährdung der menschlichen Gesundheit durch gefälschte Heilmittel zu verhindern. Alle Europarats-Mitgliedsstaaten, also auch die Schweiz, sind aufgefordert, die entsprechenden strafrechtlichen Bestimmungen zu verschärfen. Wer unrechtmässig Humanarzneimittel oder Medizinprodukte nachmacht, verfälscht, falsch bezeichnet oder solche in Verkehr bringt usw., soll bestraft werden. Das Schweizer Parlament hat am 29. September 2017 die Vorlage zur Umsetzung der Medicrime-Konvention verabschiedet. Daraufhin wurden Anpassungen an der Strafprozessordnung und am Heilmittelgesetz (HMG) vorgenommen, unter anderem mit einem ergänzenden Artikel 17a. Dieser lehnt sich inhaltlich weitgehend an die informationstechnische Lösung der EU an: Verpackungen sind mit Sicherheitsmerkmalen zu versehen, und eine Datenbank ist zur Echtheits-Überprüfung einzurichten. Der EU-Fahrplan gilt aber für den Schweizer Pharmamarkt nicht. Das Vernehmlassungsverfahren zum Artikel 17a HMG sowie zur Verordnung soll Ende 2018 stattfinden. Zudem sind die rund 220 Zulassungsinhaber für verschreibungspflichtige Arzneien noch nicht zur Auszeichnung mit Sicherheitsmerkmalen verpflichtet. Der Bundesrat lässt sich ein Hintertürchen offen und kann «das Anbringen von Sicherheitsmerkmalen und -vorrichtungen » nachträglich «für obligatorisch erklären ». Angesichts der internationalen Ausrichtung ihrer Mitgliedsfirmen geht Interpharma, der Schweizer Verband der forschenden Pharmafirmen, davon aus, dass schon bald codierte Packungen im Umlauf sein werden.

Eine neue Branchenorganisation
Auch die Pharmaindustrie will sicherstellen, dass gefälschte Arzneimittel nicht in die legale Lieferkette gelangen können. Eine zur EU analoge Regelung für die Schweiz drängte sich aus praktischen Gründen auf. Die Verbände des Gesundheitswesens entschieden, proaktiv zu handeln. Mit der Gründung der SMVO am 4. April 2018 wird auch die Schweiz ein Partner dieses wichtigen europäischen Projekts zur Erhöhung der Patientensicherheit und setzt die EU-Richtlinie auf freiwilliger Basis mit Unterstützung aller Akteure der Schweizer Pharma-Lieferkette um. Die SMVO, juristisch ein Verein, ist alleiniger Eigner der Schweizerischen Gesellschaft für die Verifizierung von Arzneimitteln GmbH (SMVS), welche die Arzneimittelprüfung operationell umsetzt. Der Aufbau und der Betrieb werden durch die Pharmahersteller finanziert. Der Austausch von Expertenwissen ist beim Aufbau eines zuverlässigen Datenbanksystems wichtig. So verfügt die Konsumgüterbranche schon seit Längerem über einen beträchtlichen Erfahrungsschatz zur standardisierten Kennzeichnung von Waren und standardisierten Übertragung von Informationsflüssen zwischen Unternehmen. Deshalb steuert GS1 Switzerland ihr Wissen im Rahmen einer Projektbegleitung bei.

Sukzessive Umsetzung
Ebenso wichtig ist die Anbindung des schweizerisch-liechtensteinischen Prüfsystems an das europäische Datenbanksystem, den sogenannten EUHub, der von der European Medicines Verification Organisation (EMVO) betrieben wird. Die für den Zielmarkt bestimmten, mit einem DataMatrix versehenen Einzelpackungen werden aus dem EU-Hub an die betroffenen nationalen Datenbanken weitergeleitet. Gemäss SMVO-Geschäftsführer Nicolas Florin werden Vertreter der EMVO ein Assessment der schweizerischliechtensteinischen Lösung vornehmen. In einer ersten Einschätzung wird das Qualitätsmanagement bewertet, in einer zweiten wird geprüft, ob das installierte nationale Prüfsystem dem vorgegebenen Pflichtenheft entspricht. Anschliessend erfolgt die Anbindung an den EU-Hub. Aus den Stellungnahmen der involvierten Verbände – vor allem seitens der Industrie – ist herauszulesen: Man ist nicht unglücklich über die koordinierende Wirkung der SMVO bezüglich Fragen der Echtheitsprüfung und des standardisierten Datentransfers innerhalb der Supply Chain. Die SMVO führt hierzu auch regelmässig Informationsveranstaltungen durch. Für pharma- Suisse, die schweizerische Dachorganisation der Apothekerinnen und Apotheker, ist zudem wichtig, dass alle Abgabestellen – also nicht nur die Publikumsapotheken, sondern auch Versandapotheken, Arztpraxen und Spitäler – der gleichen Verpflichtung unterliegen. Dazu Mediensprecherin Rahel Rohrer: «Wenn das Ziel darin besteht, die Medikamentensicherheit in der ganzen Vertriebskette zu erhöhen, ist es entscheidend, dass alle Abgabestellen gleich behandelt werden.» Noch bleibt etwas Zeit. Die Umsetzung des Checkout- Prozesses an den Abgabestellen ist terminlich weniger dringend als die Forderung an die Industrie zur korrekten Kennzeichnung ihrer Produkte. Man möchte die Zeit nutzen, «effiziente Prozesse für die Abgabestellen zu definieren und die Anbieter von Warenwirtschafts- und Kassensoftware frühzeitig ins Boot zu holen.»

Zusatznutzen fürs Supply Chain Management
Die Umsetzung der komplexen Regulierung kostet die Pharmaindustrie eine Stange Geld. Allerdings sieht SMVOGeschäftsführer Nicolas Florin auch Zusatznutzen für die Branche, jedenfalls langfristig: «Mit der ‹Serialisierung› schafft die Branche eine wichtige Voraussetzung, um die Pharma-Wertschöpfungskette in die digitalisierte Zukunft zu führen.» Man möchte meinen: Mit der Anwendung eines komplexen Datenträgers wie dem DataMatrix mit mehreren Datenelementen für diverse Anwendungen (Losnummer, Verfalldatum usw.) bietet sich eine Fülle von Möglichkeiten zur Feinsteuerung der Lieferkette. Sonderprozesse wie Retouren, Produktrückrufe usw. würden einfacher oder präziser. Das deutsche Beratungsunternehmen Miebach beobachtet die Pharmaindustrie seit Längerem. In Studien wurde festgestellt: Die Branche misst Fragen zur Optimierung der Supply Chain eine immer grössere Bedeutung zu. Dazu Miebach-Sprecher Ralf Hoffmann: «Wenn die relevanten Informationen an jeder Stelle der teils komplexen Lieferanten- und Kundennetzwerke erfasst werden, dann erhöht sich zwar die Supply-Chain-Visibilität. Andererseits müssen die zusätzlichen Daten verarbeitet, gespeichert und ausgewertet werden – was mit teilweise teuren Prozessveränderungen einhergeht. »

Jedenfalls steht fest: Die Pharmaindustrie wird einen Weg finden müssen, wie sie die Verpflichtungen aufgrund der neuen gesetzlichen Auflagen auch als Chance nutzt, die vielfältige Lieferkette zugunsten der Patientensicherheit besser zu kontrollieren.

Manuel Fischer

Mitglieder der Swiss Medicines Verification Organisation (SMVO) 
• ASSGP, Schweizerischer Fachverband für Selbstmedikation
• FMH, Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte
• GRIP, Groupement romand de l’industrie pharmaceutique
• H+, Die Schweizer Spitäler und GSASA, Schweizerischer Verein der Amts- und Spitalapotheker
• intergenerika, Vereinigung der Generika-Firmen der Schweiz
• interpharma, Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz
• pharmalog, Swiss Pharma Logistics Association
• pharmaSuisse, Schweizerischer Apothekenverband
• scienceindustries, Wirtschaftsverband Chemie, Pharma, Biotech
• SVKH, Der Schweizerische Verband für komplementärmedizinische Heilmittel
• vips, Vereinigung Pharmafirmen in der Schweiz

 

Das Erkennungsmerkmal und die Vorrichtung gegen Manipulation
Im Rahmen der delegierten Verordnung EU 2016/161 (der sogenannten «False Medicine Directive»; kurz EU-FMD) wurde beschlossen, den DataMatrix für die Codierung des Sicherheitsmerkmals zu benutzen. Im Gegensatz zum bekannten EAN-13-Barcode kann der DataMatrix auf kleinster Fläche mehr als nur den Produktcode enthalten. In Zukunft werden verschreibungspflichtige Arzneimittel mindestens folgende Informationen enthalten: 
• PC: Produktcode – in den meisten Ländern, so auch in der Schweiz, ist es die 13-stellige GTIN (Global Trade Item Number), der eine 0 (Null) vorangestellt wird und die somit 14 Stellen lang wird.
• EXP: Verfalldatum. Während der Abgabe des Arzneimittels kann mit einem Scan sichergestellt werden, dass man dem Kunden kein verfallenes oder fast verfallenes Produkt verkauft.
• Lot: Chargennummer; damit kann die Abgabestelle über das System prüfen, dass man keine zurückgerufenen Chargen verkauft.
• SN: Die Seriennummer macht in Kombination mit dem Produktcode und den übrigen Verpackungsinformationen die Arzneimittelpackung einzigartig. Beim Verkauf in der Apotheke oder der Abgabe beim Leistungserbringer, beispielsweise im Spital, wird die Seriennummer der Packung in der Datenbank abgefragt. Der Abgleich mit den Datenbanken erfolgt innerhalb von maximal 300 Millisekunden.

Ausserdem muss jede Medikamentenverpackung über eine mechanische Vorrichtung gegen Manipulation verfügen (z. B. ein Siegel), anhand der überprüft werden kann, ob die Verpackung manipuliert wurde.

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