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SBB stellt die Weichen

Von der Implementierung des GS1 Systems erhofft sich SBB Infrastruktur nicht nur eine lückenlose Rückverfolgbarkeit von Materialeinzelstücken, sondern auch eine erhöhte Prognosefähigkeit des Systems Schiene. Vom neuen Branchenstandard profitieren auch die Zulieferer – und nicht zuletzt die Gleisbauer vor Ort.

Etwas verloren scheint das Rangiergleis 7 am Bahnhof Ostermundigen gelegen. Es vermittelt den Eindruck, dass es nur selten benutzt wird. Aber egal, ob ein Gleis häufig oder selten benutzt wird, es muss an die übrigen Gleise des Bahntrassees angeschlossen sein. Und dies geschieht immer mittels einer Weiche. Weichen sind also systemrelevant für die Schiene als Verkehrsträger.

Weichen – damit die Züge rollen
«Weichen sind stark belastete Teile des Systems Bahn, die hohen Wartungsaufwand bedeuten», sagt Dominik Halbeisen, Projektleiter Supply Chain Management bei SBB Infrastruktur, auf der Erkundungstour zu unscheinbaren Details der anspruchsvollen Eisenbahn- Infrastruktur.

Auch der Bahnjargon zeugt von der vitalen Bedeutung der Weiche als sensiblem Teil der Eisenbahn. Denn jede Weiche besteht aus einem – meist starren – Herzstück, zwei beweglichen Halbzungenvorrichtungen, zudem aus besonderen Weichenschwellen, Radlenkern und Weichensignalen. Gerade das sogenannte Herzstück ist hohen Belastungen ausgesetzt, da jedes Rad des fahrenden Zuges – nach einem kurzen Unterbruch – auf das neue Gleisstück aufschlägt.

Die sogenannten Weichenzungen sind die verstellbaren Teile der Weiche, welche die Fahrtrichtung bestimmen. Nahe am Gleis erhascht man von der Seite auf der Höhe einer halben Zungenvorrichtung einen Blick auf zwei Kennzeichnungsplaketten: eine hellblaue metallene Plakette, das ehemalige Hersteller- Typenschild; und rechts davon das vom Bahntechnik-Center der SBB nachträglich aufgebrachte SBB-Typenschild.

Alte und neue Kennzeichnung
Auf der Herstellerplakette wurden das Herstellungsdatum, eine betriebseigene Serialnummer und weitere Angaben ins Metall eingeprägt. Auf dem neuen, weiss umrandeten Schild fällt das GS1- DataMatrix-Symbol auf – daneben eine schwarze, noch unbenutzte Fläche. «Der fundamentale Unterschied ist offensichtlich. Die linke Plakette ist nicht maschinenlesbar und die Nummern oder Leerschläge sind teilweise abgescheuert. Für die Rückverfolgbarkeit im digitalen Zeitalter sind diese Angaben kaum dienlich. Das zweidimensionale Symbol auf dem Typenschild rechts kann hingegen durch einen Scan erfasst werden – bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit», erläutert Dominik Halbeisen.

Das Abtasten des GS1-DataMatrix- Symbols mit einem Lesegerät vergleicht der Bahnexperte mit dem Drehen eines Schlüssels. «Über den Global Individual Asset Identifier (GIAI) verschaffe ich mir vor Ort Zugang zur Akte des Bauteils, zu dessen ganzer Historie. So zum Beispiel auch zu Fragen wie: Welches Rohmaterial wurde verwendet, wann wurde es angeliefert und wer war der Lieferant? Selbst Angaben zur Herkunft des Rohstoffes sind rückverfolgbar.»

Die SBB-Division Infrastruktur, die eines der meistfrequentierten Bahnnetze der Welt betreut, verfolgt das ehrgeizige Ziel, pro Jahr bis zu 4500 Herzstücke und Zungenvorrichtungen mit der GS1 Kennzeichnung nachzurüsten. «Mit dieser Kadenz und etwa 6000 Nachkennzeichnungen pro Jahr hätten wir in fünf Jahren alle beweglichen Teile des SBB-Schienennetzes gekennzeichnet», so Dominik Halbeisen.

Anforderungen – gestern und heute
Ein Rückblick in die Geschichte der Eisenbahn macht schnell klar: Mit dem Ziel, einen möglichst nahtlosen und steuerungsarmen Betrieb der Bahn über Länder- und Bahnverwaltungsgrenzen hinweg zu gewährleisten, legte man das Augenmerk schon früh auf die Weichen als systemkritischen Teil der Infrastruktur. So ergab sich beispielsweise bereits bei der Gründung der Deutschen Reichsbahn 1920 ein enormer Normierungsbedarf aufgrund der Vielzahl von geometrischen Eigenschaften der damaligen Weichen.

Seit über einem Jahrzehnt steht nun eine hohe Interoperabilität des Schienenverkehrs auf der Agenda der europäischen Verkehrspolitik. Um diese Aufgabe koordiniert anzugehen, gründete die Europäische Union 2004 die europäische Eisenbahnagentur. Parallel dazu trägt die Internationalisierung der Beschaffungsmärkte beim Rollmaterial und bei Bauteilen der Bahninfrastruktur ihren Teil zur Standardisierung der Weichentypen bei.

Prognosefähigkeit erhöhen
Von der Implementierung des GS1 Systems erhofft sich SBB Infrastruktur, der erhöhten Prognosefähigkeit des Systems Schiene mit Bezug auf individuelle Materialeinzelstücke einen gewaltigen Schritt näher zu kommen. Dominik Halbeisen verwendet gerne Analogien zur Medizin, wenn er künftige Wartungs- und Instandhaltungskonzepte erklärt: «Wir legen sukzessive eine neue Datenbasis an, damit wir anhand der Krankenakte eine Anamnese durchführen können. Wir wollen mittelfristig zu einer präventiven, individualisierten Medizin gelangen.» Bislang seien Weichen gemäss ihrem Einsatz auf Haupt- und Nebenstrecken oder auf Rangiergleisen klassifiziert worden. Aber eine feinere Granulation war nicht möglich, um die tatsächliche Beanspruchung einer eingebauten Baugruppe vorhersagen zu können.

Die individualisierte Kennzeichnung jeder der mehr als 10 000 Weichen auf dem SBB-Schienennetz ist demnach ein Versprechen für die Zukunft. Die Betriebsdaten der (ausserordentlichen oder planmässigen) Instandhaltung sollen künftig spezifisch für jede einzelne Baugruppe im System abrufbar werden. «Mit der Verknüpfung bereits bestehender Daten an jede individuelle Baugruppe erstellen wir die Datenbasis, um in Zukunft individualisierte Prognosen durchführen zu können», so Halbeisen.

Die Branche spricht dieselbe Sprache
Weitere Vorteile sind dank der schrittweisen Implementierung der GS1 Standards durch die namhaften Akteure der Eisenbahnindustrie zu erwarten. Konkret heisst dies, dass sowohl der Lieferant von Fahrzeugen oder von Teilen der Schieneninfrastruktur als auch seine Vorlieferanten – und somit späteren Ersatzteillieferanten – für die Identifikation und den Datenaustausch zu einem Objekt dieselbe Sprache verwenden. Der GS1 DataMatrix als gewählter Datenträger gibt Auskunft über «form, fit and function» von Bauteilen sowie über deren individuelle Eigenschaften wie Seriennummer, Chargennummer oder Produktionsdatum.

Die Implementierung des GS1 Systems hat auch Vorteile für den Hersteller. Dieser kann Produktionslose herstellen und braucht keine komplexen Anpassungen, um Güter kundenspezifisch zu kennzeichnen, wie das früher der Fall war. Und für den Schienennetzbetreiber ist die Rückverfolgbarkeit der individuellen Baugruppen für die zustandsbasierte Instandhaltung von hohem Interesse. So können allfällige Materialfehler schnell eingegrenzt werden. Dies ist auch dann noch gewährleistet, wenn eine Weiterverarbeitung im Prozess stattfindet, wie beispielsweise die Herstellung einer halben Zungenvorrichtung aus einem Rohling.

Schliesslich erleichtert das Verwenden digitaler Arbeitsmittel die Instandhaltungsvorgänge am Gleis. Nach dem Einbau von Weichenkomponenten oder nach Schweissarbeiten kann der Bahnarbeiter den Arbeitsschritt mit einem simplen Scan des DataMatrix-Symbols und dem Versenden der Nachricht von einem Mobilgerät abschliessen. «Nach einer Nachtschicht hat keiner mehr Energie für eine Fahrt ins Büro, um Papierkram zu erledigen», sagt der Bahnexperte. «Und betriebswirtschaftlich versprechen wir uns davon natürlich auch Effizienzgewinne.»

Manuel Fischer

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