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Vom Infarkt zur grünen Revolution

Vom Infarkt zur grünen RevolutionDer Onlinehandel führt zu einer Verkehrsflut, die Lärm- und Schadstoffbelastung nimmt zu. Bislang fehlen ganzheitliche Konzepte, um die ineffiziente städtische Logistik fit für die Zukunft zu machen. Die Lösungen für die letzte Meile sollen kostenlos, schnell und umweltfreundlich sein.

Während der fortschreitenden industriellen Revolution in England zog es Abertausende von Menschen in die Innenstädte der grossen Metropolen. Die Infrastruktur der Städte war Mitte des 19. Jahrhunderts in keiner Weise für diesen Ansturm gerüstet. Technologie war die Antwort. Aber selbst die in London schnell eingeführte Wasserspülung und die in grosser Eile gebaute Kanalisation konnten eine weitere Cholera-Epidemie nicht verhindern – liess man doch damals alle Abwasser einfach nur in die Themse ab.

Hier zeigt sich, wie komplex viele Probleme in Ballungszentren sind, obwohl sie auf den ersten Blick ganz einfach erscheinen. Diese Ära trägt in London nicht umsonst bis heute den Namen «The Great Stink». Der grosse Gestank ist heute in unsere Metropolen zurückgekehrt – auch wenn es nicht mehr um Fäkalienentsorgung geht, sondern vielmehr um den täglichen Lieferverkehr, der unsere Innenstädte weniger lebenswert macht, als sie eigentlich sind.

Warum ist das so?
Die E-Commerce-Affinität hat über die letzten Jahre rapide zugenommen. Neue Geschäftsideen, wie Retail-Lieferservices, variable Kurierdienste oder Essenslieferungen, sorgen für neue Bewegung in den Innenstädten. Kurier-, Express- und Paketdienste – kurz KEP genannt – erfreuen sich voller Auslastung, bringen aber gerade zu Stosszeiten oftmals den Verkehr im innerstädtischen Bereich zum Erliegen. Der Hunger nach neuen Produkten, Same- Day Delivery und noch mehr Annehmlichkeiten scheint unersättlich.

Laut einer aktuellen Studie von Pricewaterhouse Coopers und einer Umfrage vom August 2017 werden die Bedürfnisse von Onlinekäufern immer komplexer – der Wunsch nach kostenfreier Lieferung ist mit über 90 Prozent unbestrittener Spitzenreiter, aber es folgen in kurzem Abstand der Wunsch nach Sendungsverfolgung in Echtzeit, Kundenerfahrungen und die Festlegung von Lieferzeiten. Hieran zeigt sich, wie stark der Konsument in die Lieferlogistik eingreifen will und dies durch seine zunehmend mächtige Position auch tut.

In einer Metropole mit ausgeprägter Wohn- und Geschäftskultur erfolgen so innerstädtisch rund 150 000 bis 200 000 Zustellungen pro Tag nur im Bereich der KEP. Dies leisten täglich rund 1000 bis 1200 Fahrzeuge und Zusteller. Hinzu kommen die Lieferanten für Büro, Kleinindustrie und natürlich den klassischen Gross- und Einzelhandel. Daraus resultieren eine überlastete Infrastruktur, verstopfte Strassen, eine stark zunehmende Umweltverschmutzung und hoher Stress für Zusteller, Anwohner und am Ende auch für die Konsumenten.

Wie konnte es dazu kommen?
Es ist keine zwanzig Jahre her, da gab es ausserhalb der Stadt Distributionszentren, die Waren an den innerstädtischen Einzelhandel lieferten – in einer gradlinigen und überschaubaren logistischen Kette. Mit Einzug des Onlinehandels hat sich dies geändert. Der Einzelhandel in unseren Städten ist in der Krise, nur wenige Bereiche (Fachhandel, Luxusgüter, Verbrauchsgüter des täglichen Bedarfs usw.) können sich derzeit noch gegen diesen umfänglichen Trend behaupten.

Allein in den letzten fünf Jahren hat sich die Präferenz für den Onlinehandel von 36 Prozent (2012) auf 45 Prozent erhöht, in der gleichen Zeit stieg der Marktanteil von 6,3 Prozent auf 9,2 Prozent – das mittelfristige Potenzial liegt um den Faktor fünf höher. Diese Zahlen zeigen, welche immense Lawine in den nächsten Jahren über die Innenstädte hinwegrollen wird und dass damit ein infrastruktureller und logistischer Infarkt vor unserer Tür steht. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Wie könnten Lösungen aussehen?
Eine einzige Lösung wird es nicht geben. Neben dem Herumschrauben an Stellgrössen wie Zustelloptionen an Paketannahmestellen, Packstationen und Nachbarn sind neue Konzepte gefragt, beispielsweise Paketboxen, die von Zustellern übergreifend genutzt werden können. Eine Betrachtung der Teilprozesse kann also helfen. Trotzdem liegt eine übergreifende revolutionäre Lösung erst mal in weiter Ferne. Fragt man den Konsumenten, so ist dieser eher traditionell geprägt und würde den oben genannten Vorschlägen seinen Wunsch nach preisgünstiger Lieferung in einem von ihm definierten Wunschzeitraum entgegensetzen. Diese Option ist mit 40 Prozent sehr hoch in der Konsumentengunst auszumachen, der Paketshop dagegen erhält nur 20 Prozent Zuspruch.

Trotzdem lassen sich schon heute auch technologische Entwicklungen ausmachen. Elektromobilität ist ein Muss, um die CO2-Belastung und den Lärm durch den zunehmenden Lieferverkehr zu reduzieren. DHL bereitet hierfür den Weg und beteiligt sich aktiv an entsprechenden Innovationstreibern. Paketdrohnen und Paketroboter versprechen eine Reduktion von Personalkosten und Emissionen in hohem Masse und werden immer wieder gerne medial ausgeschlachtet. Testphasen laufen, aber der Konsument würde diesen Lieferweg heute noch mit 44 Prozent ablehnen. Integration der letzten Meile über alle Zusteller hinweg – gemeinsame Lieferlogistik in den Innenstädten, beispielsweise im Bereich Zustellservices und Paketboxen verbunden mit einer stärkeren Vernetzung der Datendienste. Es gibt also Ideen und Ansätze – aber was machen Städte heute schon? Hamburg versucht beispielsweise mit der Initiative SMILE in einem Micro- Hub-Konzept aktuelle zentrale Depots zu etablieren und will diese künftig mit elektromobilen Fahrzeugen (hauptsächlich elektrisch betriebene Lastenräder) kombinieren. Die Emission von CO2 und Stickoxiden wird durch dieses Konzept mehr als halbiert.

Ein grosser Schritt, den die Hanseaten machen wollen – gäbe es nicht die Schwierigkeiten unter anderem bei der Suche nach geeigneten Flächen für die Hub-Depots oder mit den fehlenden Standards im Bereich der Elektromobilität. So oder so scheint sich hier ein zukunftsträchtiger Pilot herauszubilden, der zumindest in Teilen die aktuellen Probleme innerstädtischer Logistik lösen kann.

Arthur Wetzel

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