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Aus Fehlern lernen

Marc-Anton Hochreutener, Geschäftsführer Stiftung Patientensicherheit (jh) Jedes Jahr sterben in Schweizer Spitälern wahrscheinlich mehr als 1000 Patienten durch Behandlungsfehler. Dreimal mehr als im Strassenverkehr! Die Stiftung Patientensicherheit will mit einer offenen Fehlerkultur diese Zahl reduzieren.

Die Stiftung wurde vor sieben Jahren gegründet. Noch wird die Organisation von 23 Kantonen, dem Bund und Privaten finanziert. Und auch wenn die Zahl der Todesfälle erschreckend ist, blickt der Geschäftsführer gemischt zuversichtlich in die Zukunft. Der Weg von der Straf-zur Sicherheitskultur ist hart und es ist noch viel Sensibilisierungsarbeit zu leisten.

GS1 network: Was für Ziele verfolgt die Stiftung Patientensicherheit?
Dr. Marc-Anton Hochreutener: Wir verstehen uns als nationales Kompetenzzentrum für Patientensicherheit im Sinne eines Think Tanks. Das heisst, wir entwickeln, erforschen und verbreiten Lösungen zur Förderung der Patientensicherheit. Unsere Aufgabe ist Prävention. Wir sind keine Patientenberatungsstelle. Das ist der Unterschied zu den Patientenorganisationen.

Mit was für Risiken hat der Patient im Spital zu rechnen? Welche Fehler treten am häufigsten auf?
Sehr häufig sind Medikationsfehler, das ist die grösste Fehlergruppe. Sie sind in den Prozessen kaum erkennbar. Die Fehler sind vielfältig: Verwechslung von Medikamenten, falsche Dosierung, das Medikament zum falschen Zeitpunkt verabreicht, falsche Medikamentenkombinationen, Medikationsfehler bedingt durch falsche Dokumentation usw. All das passiert diskret, aber die Auswirkungen sind gravierend. Nicht nur Medikamente können verwechselt werden, sondern auch der Patient, die Körperseite, Dokumente, Röntgenbilder, Befunde, Proben, Zimmer und sogar die Leistungserbringer. Alles Mögliche kann verwechselt werden. In dem Orchester der Beteiligten zählen auch Kommunikations-und Dokumentationsprobleme zu den Patientenrisiken. So sind die Notizen auf den Krankenakten häufig nicht lesbar. Schnell hat der Arzt noch einen Hinweis und einige Abkürzungen in die Krankenakte gekritzelt und die sprichwörtliche Arztschrift, die vielleicht nur der Apotheker entschlüsseln kann, führt dann zu Missverständnissen mit fatalen Auswirkungen. Ein weiteres Problem stellen die Schnittstellen dar, zum Beispiel bei der Patientenweiterleitung vom Spital nach Hause, in die Nachbetreuung oder in die Reha. Nicht durchgängige Prozesse erhöhen hier das Patientenrisiko.

Können Sie mir ein Beispiel nennen?
Ein ganz konkreter Fall: verschlampte Antikoagulation, also Blutverdünnung, beim Übergang vom Spital in die Reha und dann wiederum von der Reha nach Hause zum Hausarzt. Folge: Lungenembolie. Ursache: schlechte Kommunikation und Dokumentation an den Schnittstellen.

Wie kann die Patientensicherheit erhöht werden?
Um die Patientensicherheit zu erhöhen, brauchen wir eine Sicherheitskultur, wie wir sie von High-Reliability-Organisationen her, die ja eigentlich High-Risk-Organisationen sind, kenkation und eine koordinierte Reaktion nach einem Behandlungszwischenfall sind ein Führungsthema.

Wie ist die Akzeptanz Ihrer Organisation?
Die Akzeptanz der Stiftung ist hoch. Das hat auch damit zu tun, dass wir mit Menschen zusammenarbeiten, die sehr motiviert sind. Trotz aller Hindernisse setzen sich diese Personen für eine Verbesserung der Patientensicherheit ein. In den letzten Jahren hat sich die Situation etwas verbessert. Die Institutionen im Gesundheitswesen sind froh um die Hilfestellung und Empfehlungen, die von uns kommen. Aber ich mache mir da keine Illusionen. Es gibt noch Heerscharen von Professionals da draussen, die damit noch nicht viel anfangen können. Viel wichtiger scheint mit aber im Moment, die Politiker von diesem Thema zu überzeugen als den einzelnen Arzt nen. Der Patient wird während der dieser Situation übernimmt der Me-oder die Pflegenden. Dauer seiner Behandlung von einer chaniker die Entscheidungsbefugnis Vielzahl von Ärzten, Therapeuten und über das ganze Schiff. Kein Flugzeug Warum müssen Sie die Politiker Spezialisten in verschiedenen Einrich-darf mehr starten und landen, bis der überzeugen? tungen und Abteilungen behandelt. Schlüssel gefunden wird. Seit unserem Bestehen setzen wir Wir müssen grundsätzlich damit rech-In der Medizin sind die hierarchischen uns für Patientensicherheitsprojekte nen, dass in diesem komplexen System Strukturen starr und fehleranfällig. Es ein. Hier kann der Staat eine aktive und Fehler passieren. Es geht also um den gibt Situationen, in denen der Chefarzt unterstützende Rolle übernehmen. Es Wechsel von der Nullfehlerkultur hin entscheidet, obwohl die Anästhesie-ist sicher auch Sache der Leistungszu einer Kultur, die mit Fehlern rechnet Oberärztin im Moment die klinische erbringer, für mehr Sicherheit zu sorund damit aktiv umzugehen weiss. Wir Situation besser überblickt. Einerseits gen, aber in erster Linie ist es ein brauchen eine höhere Aufmerksam-braucht es diese Hierarchie, damit die Public-Health-Problem wie Fettleibigkeit und Achtsamkeit für die Fehler- Organisation funktioniert, aber ande-keit oder die Immunschwäche Aids. und Sicherheitsproblematik. Das ist eine Grundvoraussetzung für den Kulturwechsel. In einem Atomkraftwerk funktionieren die Leute grundsätzlich anders als in
Krankenhäusern. Sie gehen ständig davon aus, dass etwas schiefgehen kann, obwohl praktisch nie etwas schiefgeht. Sie bewegen sich permanent und sehr bewusst in diesem rerseits ist sie oft ein Hindernis. In der Genauso wie die Strassenverkehrs-Spannungsfeld zwischen hochgradi-Medizin sind wir obrigkeitshörig. Feh-sicherheit im Interesse der Öffentlichger Standardisierung im Interesse der ler werden nicht wie in der Fliegerei keit steht, sollte auch der Patienten-Sicherheit und der dauernden Auf-offen diskutiert und Checklisten sind sicherheit vermehrt Beachtung gemerksamkeit, dass etwas schiefgehen Mangelware. schenkt werden. Jedes Jahr investieren kann. Oder nehmen wir den Mecha-Um die Sicherheit für den Patienten wir Millionen von Franken in Sicherniker auf dem Flugzeugträger. Ein zu verbessern, ist an vielen Ecken heitsmassnahmen für den Strassenver-Schraubenschlüssel geht auf dem und Enden ein Umdenken notwendig. kehr. Als Fahrzeuglenker muss ich ja Flugdeck verloren: eine Existenzbe-Dazu gehören standardisierte Prozes-auch nicht die Ampel bezahlen, sondrohung für das ganze System. Der se, verschiedene Formen von Sicher-dern die Ampel wird hingestellt, damit Schraubenschlüssel könnte in ein heitschecks, Prüfungen, rigorosere Re-der Verkehr sicherer wird. Dieses Den-Treibwerk eines startenden oder lan-geln und eine Kommunikationskultur, ken fehlt in unserem Bereich noch denden Flugzeugs gelangen. Die Fol-die nicht mit disziplinarischen Mass-sehr. Politiker denken oft noch, wir sollgen können Sie sich ja vorstellen. In nahmen droht. Eine offene Kommuni-ten dankbar sein für ihr Geld. Es ist umgekehrt: sie sollten ihre Pflicht wahrnehmen und in Patientensicherheit investieren. Checklisten werden unter anderem in der Industrie als Hilfsmittel eingesetzt, um die Aufgabenerfüllung zu überprüfen.

Was halten Sie von Sicherheits-Checklisten für das Gesundheitswesen, wie es die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt?
Checklisten sollen die Sicherheit der Patienten erhöhen, werden aber noch zu wenig eingesetzt. Der Einsatz solcher Listen ist aber dringlich zu fördern. Die Medizin ist zwar dermassen komplex, dass nicht alles mit Checklisten überprüft werden kann. Für gewisse heikle Prozesse sind Checklisten aber sehr wertvoll. Dabei ist es aber die letzte Sicherheitsstufe: Alle Mitglieder des Operationsteams bestätigen, dass es sich um den richtigen Patienten, die richtige Operation und die richtige Operationsstelle handelt.

Ist der Eingriffsort markiert? Bei diesem «Team-Time-out» können auch ungeachtet der Hierarchiestufe allfällige Bedenken geäussert werden. Ohne Markierung keine Anästhesie und bei Uneinigkeit kein Schnitt. Mit einer erweiterten Checkliste werden weitere Punkte abgearbeitet. Stimmen die Bilder und die Dokumente überein? Hat der Patient die Infektprophylaxe bekommen? Verfügt das Team über das erforderliche Equipment? Vor und nach dem Eingriff werden Instrumente, Tupfer usw. gezählt. Da gibt es einige sehr kritische Punkte,
wichtig, dass solche Massnahmen zu hundert Prozent umgesetzt und eingehalten werden. Der Pilot verzichtet ja auch nicht nach einer erfolgreichen Landung auf das Abarbeiten der Checkliste. Es darf keine Ausnahmen geben. Diese Rigorosität und Konsequenz fehlt im Gesundheitswesen. Zurzeit erarbeiten wir Operations-Checklisten für die Chirurgie. Die Empfehlungen basieren auf den WHO- Richtlinien.

Wie sieht eine Checkliste aus?
Eigentlich ganz einfach. Zur Prävention von Eingriffsverwechslungen haben wir schon vor Längerem vier Stufen definiert. Bei der ersten Stufe handelt es sich um ein Aufklärungsgespräch und um die Feststellung der Identität des Patienten. Bei der zweiten Stufe wird gemeinsam mit dem Patienten mit einem nicht abwischbaren Stift der Eingriffsort markiert. Vor der Überführung in den Operationssaal wird in der dritten Stufe nochmals überprüft, ob der richtige Patient in den richtigen Operationssaal geschoben wird. Und bevor das Skalpell zum ersten Schnitt angesetzt wird, erfolgt die konsequent gecheckt werden müssen. Eigentlich Dinge, die selbstverständlich sein sollten, aber im Operationssaal gehen sie manchmal unter.

Und was kann der Patient selber zu seiner Sicherheit beitragen?
Der Patient kann einen wichtigen Beitrag für seine Sicherheit und zur Vermeidung von Fehlern leisten. Er ist die eigentliche Drehscheibe. Der Patient soll nachfragen, wenn er etwas nicht verstanden hat; ob das nun beim Arzt ist oder beim Pflegepersonal, egal. Auch wenn er das Gefühl hat, nicht ausreichend informiert worden zu sein, soll er nachfragen. Stellt er fest, dass heute die Medikamente anders verabreicht wurden als gestern, soll er sich melden und nach dem Warum fragen. So kann der Patient Dosierungsfehlern, aber auch Medikamentenverwechslungen entgegenwirken. Als Patient können Sie sehr viel zu Ihrer Sicherheit beitragen. Oft fehlt uns aber als Patient der Mut, uns zu äussern, geschweige denn, dem Arzt zu widersprechen. Wir empfehlen den Patienten auch, jede Unstimmigkeit sofort zu klären.
Wir erwarten, dass der Patient mitdenkt und mitdenken darf. Auf beiden Seiten muss ein Änderungsprozess stattfinden. Schliesslich ist der Arzt für den Patienten da, nicht der Patient für den Arzt.

Was halten Sie von der Patientenidentifikation in Form eines Armbandes mit Barcode?
Mit dem Patientenarmband wird die Patientensicherheit erhöht. Ich glaube, in einigen Jahren wird die Patientenidentifikation mittels Armband Standard sein. So kann die Identität eines Patienten bei allen Behandlungsschritten festgestellt werden. Die Verwechslungen bei der Medikamentenvergabe, bei Operationen oder Bluttransfusionen sinken drastisch. Und der aufgedruckte Barcode oder RFID-Chip ist auch ein weiterer Schritt in Richtung elektronisches Patientendossier. Aber auch hier wird, trotz der Hektik im Krankenhaus, exaktes Arbeiten vorausgesetzt. Stellen Sie sich vor, das Armband wird von Anfang an falsch ausgestellt oder gar verwechselt: Sie sind während der Dauer der Hospitalisation der falsche Patient. Die Identifikationsinstrumente sind letztlich nur dann voll wirksam, wenn sie in ein durchgängiges technologisches System eingebunden sind. Auch hier müssen Standards eingesetzt werden, damit über eine eindeutige Patientenidentifikation die Medikationsverordnung oder der Austausch medizinischer Patientendaten erfolgen kann. Je ausgeprägter dann noch die elektronische Vernetzung unter den Beteiligten ist, umso wirksamer sind solche Instrumente. Aber der ganze technische Fortschritt wird die verbale Kommunikation nie ersetzen. Die schriftlichen Sicherheitschecks werden weiter bestehen bleiben. Egal ob Nummer oder Name.

Sie befürworten also die Patientenidentifikation? Mit einem solchen System könnten aber auch krankheitsbezogene Daten aufgezeichnet werden. Wie stehen Sie zum elektronischen Patientendossier?
Das elektronische Patientendossier wird irgendwann in irgendeiner Form kommen. Es liefert wichtige medizinische Daten einer Person. Die zentrale und digitale Speicherung der Daten hat viele Vorteile. Heute liegen unsere Laborbefunde, Operationsberichte und Röntgenbilder beim behandelnden Arzt oder im Krankenhausarchiv. Bei einem Arztwechsel ist der Zugriff auf die so archivierten Daten nicht ohne Weiteres möglich. Wenn aber die Informationen über Allergien oder andere Leiden sofort verfügbar sind, erhöht dies die Patientensicherheit und wirkt der Kostenspirale im Gesundheitswesen entgegen. Andere Länder sind uns da einen Schritt voraus. Auf der anderen Seite bestehen berechtigte Bedenken, was den seriösen Umgang mit diesen sensiblen Daten angeht. Es ist wichtig, dass der Schutz der personenbezogenen Daten gewährleistet wird, denn mit den zunehmenden elektronischen Gesundheitsdaten steigt auch das Risiko des Missbrauchs. Ich bin mir aber sicher, dass die Vorteile die Risiken überwiegen, das zeigen andere Länder.

An wen muss ich mich wenden, wenn etwas passiert?
Als Patient sind Sie bei uns an der falschen Adresse, wir sind keine Patientenberatungsstelle. Uns interessiert der Fall, um daraus zu lernen und Empfehlungen abzuleiten. So haben wir in der Schriftenreihe «Wenn etwas schief geht» Empfehlungen und Verhaltensweisen für die in Gesundheitsinstitutionen tätigen Personen erarbeitet. Erfährt der Patient einen Behandlungszwischenfall, dann soll er sich an die Stiftung Patientenschutz oder die schweizerische Patienten-stelle wenden. Beide Organisationen schützen und fördern die Patienten-rechte im Gesundheitswesen.

Wie lassen sich Qualität und Sicherheit in der gesundheitlichen Versorgung langfristig verbessern?
Das Thema Patientensicherheit muss stärker in die gesundheitspolitische Diskussion und die Investitionspolitik aufgenommen werden. Politik, Öffentlichkeit und die Leistungserbringer müssen weiter sensibilisiert werden. Die Patientenidentifikation oder das elektronische Patientendossier sind nur einzelne Elemente im gesamten System. In erster Linie müssen wir aber die Prozesse im Gesundheitswesen verbessern und durchgängig gestalten. Dazu braucht es Standards, klare Richtlinien und eine offene Kommunikationskultur, in der Fehler gemeldet werden, um aus ihnen zu lernen. Eine Schuldkultur und autoritäre Verhaltensmuster sind dabei hinderlich.

Wie funktioniert ein CIRS (Critical Incident Reporting System)?
CIRS ist ein meist computergestütztes Fehlermeldesystem und bietet unter Gewährleistung der Anonymität die Möglichkeit, über kritische Vorfälle zu

Die Fragen stellte Joachim Heldt.

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