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«In Wahrheit ist die KI ein ganz zahmer Tiger»

Zukunftsforscher Matthias HorxMatthias Horx zählt zu den Begründern der Zukunftsforschung. Hinter laut ausgerufenen «revolutionären» Trends sieht er vor allem das Normale und Unspektakuläre. Andere Bewegungen hält er für unterbewertet. Und am Ende wird immer der Mensch entscheiden müssen, wie seine Zukunft aussieht.

 

GS1 network: Sie sind Zukunftsforscher. Früher wurden noch fliegende Autos versprochen, heute klingt vieles weniger konkret, dinglich. Wie haben sich die Themen und Inhalte von Prognosen in den vergangenen Jahrzehnten verändert? 
Matthias Horx: In meinen 25 Jahren als Zukunftsforscher habe ich gelernt, dass es wenig sinnvoll ist, einzelne Trends und «Sensationen» zu prognostizieren. Das ist eher Entertainment und folgt einer naiven Sensationsbegeisterung, ich nenne das auch «Kleine- Jungs-Futurismus». Ich bin heute eher Systemforscher, der die grossen Zusammenhänge zu verstehen versucht, mit denen sich Gesellschaft, Wirtschaft und Individuen verändern. Dabei kommt es vor allem auf Kontextwissen an, auf Denken in mehreren Ebenen und Verknüpfungen. Die Entwicklung von Technik zum Beispiel versteht man nur, wenn man kulturelle, ökonomische UND psychologische Faktoren mit analysiert. Das heisst auch: Die Zukunft ist wie ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können. Ich nenne das auch den «Humanistischen Futurismus». 

Das Megatrend-Modell von vor 30 Jahren ist bis heute ein zentrales Konzept für Zukunftsprognosen. Was sind seine Stärken, und welches Gewicht hat die Digitalisierung darin? 
Megatrends sind nach wie vor ein guter Einstieg in die Zukunftsforschung, weil sie sehr langfristige Trends repräsentieren. Die Globalisierung zum Beispiel ist uralt, schon in der Bronzezeit gab es ein europäisches Handelssystem quer durch den Kontinent, auf dem Metalle, Salz und manche Luxusgüter gehandelt wurden. Aber der Fehler beginnt immer dann, wenn wir diese Megatrends einfach nur geradeaus in die Zukunft weiterzeichnen – linear geradeaus. 
Die Globalisierung erlebt derzeit ja einen echten «Tipping Point», einen Gegentrend Richtung Nationalismus und Isolationismus. Das ist bei allen Megatrends so: Früher oder später provozieren sie eine Gegenkraft. Die eigentliche Zukunft beginnt dann in einer Zukunfts-Synthese, in der Trend und Gegentrend auf einer höheren Ebene vereint werden. Um den Konflikt zwischen Globalisierung und Re-Nationalismus zu lösen, könnte GloKALisierung dienen, eine Verbindung des Lokalen, Heimatlichen mit dem weiten Blick in die Welt. Ähnliche Synthesen zeichnen sich auch bei den anderen Megatrends ab. Aus radikaler Individualisierung wird soziale, kooperative Individualität, aus Alterung entsteht «Downaging» – wir werden in den jeweiligen Lebensphasen im Vergleich zu früheren Generationen immer jünger. Und so weiter. 

Die Digitalisierung bewegt viele Unternehmen. Welche Aspekte dieses Trends sind für Sie besonders bedeutsam? 
Die Digitalisierung ist inzwischen ein etwas müder Trend, obwohl sie uns in den Medien und von den Beratern immer noch als brandneue Revolution verkauft wird. Digitalisierung ist einerseits banal, weil Computer- und Netzwerktechnik sich schon seit 25 Jahren ständig weiterentwickeln. Sie ermöglicht Datenkommunikation in Echtzeit, sie bildet eine Art Nervengeflecht. Aber alles, was Nerven hat, hat auch Schmerzen. Wie wir am Desaster der «Sozialen Medien» sehen können, in denen sich eine gigantische Hass- und Erregungskultur ausgebreitet hat, die unsere Alltagskultur und Demokratie eher zu zerstören als zu verbessern droht, ist direkte Vernetzung nicht immer gut. 
Die Unternehmen versprechen sich natürlich Beschleunigungs- und Effizienzgewinne von der Digitalisierung, aber auch diese Rechnung geht nicht immer auf. Weil Langsamkeit manchmal auch Vorteile hat, etwa wenn man über Strategie und Sinn nachdenken muss. Immer weiter gesteigerte Effizienz führt vielleicht dazu, dass wir das Falsche immer schneller machen. Aber es bleibt trotzdem falsch. Wir brauchen eine neue, dosierte, kluge, humanisierte Digitalisierung – wir sprechen auch von «Erleuchteter Digitalität».


Sind aus Ihrer Sicht alle Branchen gleich stark betroffen, oder ist unsere Wahrnehmung verzerrt? Was empfehlen Sie Unternehmen bezüglich Digitalisierung? 
Das ist unterschiedlich. Es kann auch sein, dass ich rate, die Verwaltungs-IT auszubauen, aber ansonsten sehr analog, sehr persönlich am Kunden zu bleiben. Wenn alle anderen Firmen nur noch per Sprachroboter zu erreichen sind, ist es vielleicht vielversprechend, wieder eine ganz normale, zugewandte menschliche Stimme im Kundenservice zu hören. Menschen bleiben analoge Wesen. 

Welche Gedanken haben Sie zum Thema künstliche Intelligenz? 
KI ist ein richtiger Gross-Mythos, eine Art Horror-Angst-Erlösungs-Story. Entweder wird uns die KI versklaven oder zerstören – a la Schwarzenegger, der als Terminator aus der Zukunft kommt – oder sie wird alles menschliche Leid inklusive aller Verkehrsstaus lösen. Ich glaube beides nicht. Computer werden nie so «ticken» wie Menschen, es sei denn, wir produzieren sie aus biologischem Material, aber dann wären sie Menschen, und um die zu «produzieren» gibt es vergnüglichere Methoden. Also reden wir im Grunde über Expertensysteme. Aber nehmen wir an, wir hätten ein Expertensystem, das die Verkehrsströme einer Stadt optimieren kann. Dann müsste man immer noch entscheiden, ob Strassen ausgebaut werden sollen oder nicht, wie die Architektur aussieht, ob man mehr Fahrräder hereinholen will und wie die Innenstadt fussgängerfreundlich gestaltet werden muss. Das sind menschliche Entscheidungen, die mit Wertsetzungen zu tun haben, mit Prioritätensetzungen im Sinne eines humanen Weltverständnisses. Das nehmen uns die Computer nicht ab, auch wenn wir das noch so fürchten und hoffen. 

Wie wird das Zusammenspiel von Mensch und KI sich Ihrer Meinung nach entwickeln? 
Durchaus kooperativ. So, wie wir heute mit Hämmern oder Smartphones umgehen, werden wir auch mit Expertensystemen umgehen, wenn es angebracht ist. Aber ein Arzt wird immer ein Mensch bleiben, selbst wenn er die Röntgenbilder per KI vorauswerten lässt. Eine solche Sichtweise bringt eine gewisse Ernüchterung mit sich. Deshalb ist sie nicht sehr gefragt. Man muss wissen, dass Zukunft immer ein Markt der Narrative ist. Und Menschen brauchen sensationelle, «gefährliche» Zukunftsgeschichten. Die KI bietet sich hier als grosses Panorama an, eine gruselige Selbstabschaffung einerseits, Fantasien gottähnlicher Allmacht andererseits. Aber in Wahrheit ist die KI ein ganz zahmer Tiger. 

Welche Rolle spielt der Mensch in einer digitalisierten Welt? Gibt es in Zukunft noch genug Arbeit? 
Es gibt womöglich sogar MEHR als genug Arbeit. Aber natürlich ANDERE Arbeit – kommunikativer, kreativer, kooperativer, weniger monoton, aber auch anspruchsvoller, was unsere Lernfähigkeiten betrifft. In allen Ländern mit hoher Automatisierung – Japan, Deutschland, Kanada, Skandinavien – ist die Arbeitslosigkeit eher gering und es entstehen sehr differenzierte, vielfältige neue Berufe und Arbeitsformen. Das hat mit dem «Gesetz der aufsteigenden Nachfrage» zu tun. Je mehr physische Produktionen beschleunigt und verbilligt werden, desto mehr neue Bedürfnisse tauchen auf, und die formen immer mehr Jobs und Nischen, in denen Menschen mit allen möglichen Humandienstleistungen Geld verdienen können. In den letzten zehn Jahren sind mehr als tausend neue Berufe entstanden, und es werden immer mehr. Man denke nur als Beispiel an den gigantischen Yoga- und Achtsamkeitsmarkt, der inzwischen Zigtausende ernährt. Rund um automatisierte Fabriken sind unglaublich viele Logistik- und technische Dienstleistungen nötig 

Ist ein bedingungsloses Grundeinkommen die Antwort auf die Automatisierung? 
Es wäre dann eher eine Antwort auf die Verschiebungen, die in der Nachfrage nach Qualifikationen stattfindet. Aber das Grundeinkommen bringt auch viele neue Probleme mit sich. Es setzt meiner Meinung nach falsche Anreize. Es ist nicht gerecht, schon gar nicht in einer Welt, in der es immer noch bittere Armut gibt. Ich glaube eher an ein bedingtes Grundeinkommen. Wenn jeder Reiche das auch bekommt, ist das einfach nicht vertretbar. 

Neben der Digitalisierung – welches sind die massgeblichen Trends für Wirtschaft und Konsumwelt? 
Ich denke, dass das Thema Ökologie jahrelang unterschätzt oder in seiner Bedeutung gar nicht richtig verstanden wurde. Die Aufgabe der Decarbonisierung und des «tiefen Recycling» – wir nennen das auch «Cradle-to-CradleÖkonomie » – ist die Aufgabe dieses Jahrhunderts. Wir können das schaffen, aber dazu müssen wir endlich aufhören, uns immer gegenseitig vorzurechnen und vorzuwerfen, dass es nicht gehe. Dann ist der Konsum heute an einer Übersättigungsgrenze angelangt, mehr geht in «den Konsumenten» nicht hinein. Man sieht das in allen Branchen:Autos, Food, Kleider und so weiter. Wir sind übersättigt und überdrüssig und übergewichtig, und deshalb werden sich Menschen zunehmend wieder den grossen Fragen zuwenden: Natur, Lebensqualität, bessere Städte, klügere Mobilität, ganzheitliche Gesundheit – ECHTE Zukunft eben. Das wird eine grosse Transformation unseres Denkund Wirtschaftssystems. 

Sie haben gerade ein neues Buch publiziert: «15½ Regeln für die Zukunft: Anleitung zum visionären Leben». Worum geht es darin? 
Es geht um die Frage, wie wir unserer INNEREN Zukunft begegnen können. Wie wir uns sozusagen mit der Zukunft in Verbindung setzen können, anstatt uns dauernd hysterisch zu fürchten Das, was kommt, hängt ja von unseren inneren Einstellungen, unseren Bildern und Projektionen ab. 

Welche Regel empfehlen Sie unseren Leserinnen und Lesern als erste zu beherzigen, und wie funktioniert die halbe Regel? 
Die erste Regel meines Buches lautet «Glaube nicht an Future Bullshit!». Das meint, dass wir weder den aufgeplusterten Technik-Hypes glauben sollten, noch den ständigen Untergangs-Übertreibungen. Die Halb-Regel am Schluss sagt, dass Zukunft eigentlich immer eine Entscheidung ist. Wie die Liebe oder das Engagement für einen grossen Traum. 

Die Fragen stellten Alexander Saheb und Joachim Heldt.

 

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